Frankfurt – Die rekordhohe Inflation in der Eurozone treibt die europäischen Notenbanker zur Erhöhung der Leitzinsen um 0,75 Prozentpunkte und damit zum größten Zinsschritt seit Beginn der europäischen Währungsunion 1999. „Wir mussten und müssen handeln“, sagte Christine Lagarde, Präsidentin der Europäischen Zentralbank (EZB), am Donnerstag nach der Sitzung des EZB-Rates. Schließlich sei die Inflation im August im zehnten Monat in Folge auf einen neuen Rekordwert gestiegen. Sie kündigte weitere Zinserhöhungen an. „Die Inflation bleibt viel zu hoch und wird wahrscheinlich noch für eine längere Zeit über dem EZB-Inflationsziel von zwei Prozent verharren. „Und wir wollen dahin“, sagte sie mit Nachdruck im Frankfurter Euro-Tower.
Die EZB-Präsidentin stellte klar, dass dies zügig passieren wird und die Zinsen auch in den nächsten vier oder fünf Sitzungen des Rates – die bis Mai 2023 angesetzt sind – weiter erhöht werden. Ob es erneut in der Höhe vom Donnerstag sein wird, ließ sie offen. „0,75 Punkte sind nicht die Norm.“ Die Normalisierung der Geldpolitik gehe weiter. „Aber das ist noch eine lange Reise“.
Mit der zweiten Zinserhöhung seit Ende Juli steigt der Leitzins, zu dem sich Banken und Sparkassen bei der EZB Geld leihen, das sie als Kredite an Verbraucher und Firmen weiterreichen, auf 1,25 Prozent. Für Einlagen bei der Notenbank erhalten die Institute jetzt 0,75 Prozent Zinsen. Die Entscheidungen der Notenbanker werden dazu führen, dass sich Kredite verteuern und mit Verzögerung auch die Spar- und Anleihezinsen weiter steigen. Kredite an Privathaushalte seien schon jetzt so teuer wie seit mehr als fünf Jahren nicht mehr, sagte Lagarde.
Vor der Sitzung war spekuliert worden, ob die EZB die Zinsen um 0,5 oder 0,75 Punkte erhöht. Am Ende habe man sich nach einer intensiven Debatte im 25-köpfigen Rat „einmütig“ für den großen Zinsschritt entschieden, sagte Lagarde.
Die EZB selbst rechnet ihren neuesten Schätzungen zufolge in diesem Jahr im Schnitt mit einer Inflationsrate von 8,1 Prozent, 2023 soll sie bei 5,5 und 2024 bei 2,3 Prozent liegen. Damit haben sich ihre Erwartungen im Vergleich zur letzten Vorhersage im Juni deutlich verschlechtert. Lagarde sieht zudem das Problem, dass die Preise nicht nur bei Energie und Nahrungsmitteln weiter massiv steigen, sondern mittlerweile in vielen Wirtschaftsbereichen deutlich nach oben zeigen. Ohne Energie und Nahrungsmittel schätzt die EZB die Inflation in diesem Jahr auf 3,9 und 2023 auf 3,4 Prozent. Die hohe Inflation sei „fürchterlich“ und treffe vor allem weniger privilegierte Bereiche der Gesellschaft. Die Risiken stiegen weiter, je länger der russische Angriff auf die Ukraine andauere.
Zudem verwies die Französin auf die Folgen der Dürre in Europa, steigende Nahrungsmittelpreise, Produktionsengpässe und steigende Löhne und Gehälter.
Ein Zinsschritt von 0,75 Prozentpunkten war bereits vor der gestrigen EZB-Sitzung von vielen Ökonomen gefordert worden. So hatte etwa der Präsident des Münchner Ifo-Instituts, Clemens Fuest, dem „Tagesspiegel“ gesagt: „Wir kommen von einer extrem expansiven Geldpolitik.“ Die von ihm geforderte Zinserhöhung sei daher keine Straffung, sondern eine Normalisierung. „Wer bei fast zehn Prozent Inflation nicht willens ist, die Geldpolitik zu normalisieren, hat seinen Job verfehlt“, sagte er.