München/Frankfurt – 2022 war auch für die Börsen ein verheerendes Jahr. Von Anfang Januar bis Ende September stürzte der deutsche Leitindex Dax über 20 Prozent ab. Nur weil er sich seither wieder erholt hat, hält sich das Minus unter dem Strich mit rund zehn Prozent halbwegs in Grenzen. Doch wie geht es weiter? Das haben wir den Kapitalmarktstrategen Martin Lück von Blackrock gefragt. Und der mit einem Anlagevermögen von umgerechnet rund acht Billionen Euro größte Vermögensverwalter der Welt hat eine gute Nachricht: Denn für die Börsen könnte das Schlimmste überstanden sein.
Herr Lück, 2022 war ein miserables Börsenjahr. Woran lag es?
2022 kam einfach sehr viel zusammen: die Lieferketten-Probleme, der Energiepreis-Schock nach dem russischen Angriff auf die Ukraine, die hohe Inflation, die steigenden Zinsen, die der Wirtschaft und den Verbrauchern zugesetzt haben. Das war ein typisches Stagflationsjahr. Und dieser Mix aus wirtschaftlicher Stagnation und steigenden Zinsen ist Gift für die Aktienmärkte. Gleichzeitig sind auch die globalen Anleihemärkte um fast 15 Prozent eingebrochen. Für gemischte Portfolios aus Aktien und Anleihen war das fatal.
2023 kann also nur besser werden! Oder?
Dafür spricht einiges, viel schlechter als 2022 kann es nämlich kaum werden. Weiter steigende Zinsen könnten die Kurse von Anleihen zwar nach wie vor belasten. Doch die Aktienmärkte dürften viele Risiken schon verdaut haben, hier könnte es wieder aufwärts gehen. Ob das aber reicht, um 2023 alle Verluste aus 2022 aufzuholen? Da bin ich nicht ganz so sicher.
Wie hoch wird das Plus ungefähr ausfallen?
Zwischen fünf und zehn Prozent Gewinnwachstum halte ich für realistisch, mehr eher nicht. Denn Risiken und Probleme wie der Ukraine-Krieg oder die hohen Energiepreise bleiben bestehen. Europa wird Anfang 2023 in die Rezession stürzen, Die Börsen dürften 2023 also eher mit Gegenwind starten. Im Laufe des Jahres könnte sich das aber drehen. Viele Unternehmen auf der Welt haben sich an die neue Situation weitgehend angepasst und dürften das Schlimmste bereits überstanden haben.
Was, wenn der Ukraine-Krieg weiter eskaliert?
Es ist noch unklar, wie es im Krieg Russlands gegen die Ukraine weitergeht. Eine weitere Eskalation hätte in erster Linie Folgen für die Menschen, die von dem Krieg betroffen sind. Auch die Börsen würde es treffen. Aber man sollte nicht nur Horrorszenarien im Hinterkopf haben. Es sind auch positive Wendungen denkbar, bei denen sich die Kurse plötzlich positiv entwickeln könnten.
Welche denn?
Drei Beispiele. Erstens: Russland lenkt ein und der Ukraine-Krieg findet ein geordnetes Ende. Zweitens: China und der Westen setzen mehr auf Kooperation statt Konfrontation. Beides wäre eine enorme Erleichterung, wir hätten wieder eine friedlichere und berechenbarere Welt. Und drittens: Die Notenbanken beschließen, dass sie auch mit höherer Inflation leben können und heben die Zinsen nicht mehr weiter an. Damit würde sich die Lage an den Börsen entspannen. Und dann wären unsere Schätzungen wohl zu vorsichtig.
Wie wahrscheinlich ist das? Die Notenbanken waren zu starken Zinserhöhungen gezwungen.
Gar nicht so unwahrscheinlich. Für das kommende Jahr rechnen wir zwar noch mit fünf bis sieben Prozent Teuerung. Wir gehen aber nicht davon aus, dass die Notenbanken weiter einen großen Zinsschritt nach dem anderen machen, um die Rate auf das Ziel von zwei Prozent zu drücken. Sie werden die höhere Inflation akzeptieren.
Auch in Europa?
Die Voraussetzungen sind hier etwas anders. In den USA wurde die Inflation durch einen Nachfrage-Schock ausgelöst, als die Amerikaner mit Schecks ausgestattet aus den Lockdowns kamen und mit beiden Händen das Geld ausgaben. Der Höhepunkt ist dort erreicht und die Inflation geht leicht zurück, weshalb die US-Notenbank die Zinsen schon jetzt langsamer anhebt. In Europa setzte die Inflation später ein und wurde stärker von den Energiepreisen getrieben. Man muss sehen, wie die Europäische Zentralbank weiter reagiert.
Bedeutet das auch, dass US-Aktien aussichtsreicher als europäische sind?
Ich würde es anders sagen: US-Aktien sind nicht ganz so unattraktiv wie europäische. Amerika hat nur halb so hohe Energieausgaben wie Europa, ist also von der Energiekrise weniger stark betroffen, weil es autarker ist. Für die Unternehmen dort ist das ein großer Vorteil. Wenn eine der beiden Regionen an der Rezession vorbeischrammt, dann also eher die USA. Und: Amerika hat viel mehr sogenannte Qualitätsaktien von Konzernen, die von Krisen weniger belastet werden.
Seit zehn Jahren haben die großen US-Technologieaktien die Weltbörsen bestimmt. 2022 sind sie ziemlich stark unter die Räder gekommen. Ist die große Zeit von Netflix, Facebook und Amazon vorbei?
Der technische Fortschritt wird weiter das bestimmende Thema für die Menschheit sein. Nur der Bereich, in dem es große Innovationen und neue lukrative Geschäftsmodelle gibt, könnte ein anderer werden. Der Hype um Internet-Kommunikation und Internet-Plattformen stößt gerade etwas an seine Grenzen. Dafür gibt es bei Trends wie grünen Technologien, Medizintechnik oder Elektromobilität viel Potenzial. Aber auch hier sind die USA besser aufgestellt. Alle wichtigen Technologiewellen kamen in den vergangenen Jahrzehnten aus Amerika – schon allein, weil es dort mehr Start-ups und mehr Risikokapital gibt.
In Europa kämpft die Politik verzweifelt mit viel Geld gegen eine große Wirtschaftskrise an. Wird das funktionieren?
Sie hat es dabei jedenfalls schwerer als in den letzten drei Jahrzehnten, als sie nur die Nachfrage steuern musste. Gab es wenig Nachfrage, wurde mit Geld unterstützt, gab es zu viel Nachfrage, wurde gebremst. Nun sind wir aber in eine Phase übergegangen, wo Angebot-Schocks dominieren. Das erinnert eher an die 1970er, als der Jom- Kippur-Krieg 1973 und die islamische Revolution 1979 zu Ölkrisen und Wirtschaftskrisen geführt haben.
Kein schöner Ausblick.
Die Frage ist, wie wir diese Zeit nutzen. Wenn wir nicht über Jahre mit schlechtem Gewissen duschen und nur Teile unseres Zuhauses heizen wollen, muss uns die grüne Transformation gelingen. Seit den 1950ern wissen wir, dass fossile Energien nicht unbedingt zukunftsfähig sind – dass wir es bisher nicht geschafft haben, davon wegzukommen, ist erschütternd.
Jetzt schaffen wir das?
Das ist die einzige Chance, die wir haben. Bis es aber so weit ist, wird es in der Wirtschaft und an den Börsen immer wieder krachen und knirschen. Gleichzeitig werden jene Unternehmen belohnt werden, denen der Übergang gelingt oder die ihn sogar ermöglichen.
Interview: Andreas Höß