München – Der Gerichtssaal mit dem Flair einer Schulturnhalle liegt unterirdisch auf dem Areal der Justizvollzugsanstalt Stadelheim. Ortsansässige nennen sie Sankt Adelheim. An diesem Donnerstag nimmt um 9:45 Uhr eine besondere Art von Geldadel auf der Anklagebank Platz. Es sind Markus Braun als Ex-Chef des einstigen Dax-Konzerns Wirecard, dessen früherer Chefbuchhalter Stephan E. und ein Mann, den man wegen seiner zentralen Rolle im Prozess mit vollem Namen nennen muss. Es ist Oliver Bellenhaus, einstiger Wirecard-Statthalter in Dubai, Angeklagter und Kronzeuge der Anklage zugleich.
Braun schreitet voran, zielstrebig mit Laptop unter dem Arm, Blazer und schwarzem Rollkragenpullover, der stets sein modisches Markenzeichen war. Im Gegensatz zu seinen Mitangeklagten wirkt Braun dynamisch und unbeschwert, als wäre er auf dem Weg zu einer Vorstandssitzung. Bellinghaus trägt eine Corona-Schutzmaske, Stefan E. schmuggelt sich zwischen seinen Anwälten in den Hochsicherheitssaal, der einmal für Terroristenprozesse gebaut wurde.
Seine Angaben zur Person macht Braun mit lauter, klarer Stimme. Seinen aktuellen Wohnort Stadelheim bestätigt er mit den Worten „absolut richtig“. Dann ist Staatsanwalt Matthias Bühring an der Reihe, der den Wirecard-Komplex maßgeblich ermittelt hat. Stundenlangen verlesen er, eine Kollegin und ein Kollege die Anklageschrift. Sie kommt rasch zur Sache.
Irgendwann vor 2015 habe Braun mit seinen Mitangeklagten sowie weiteren Personen eine kriminelle Bande gebildet. Ihr Ziel war es, den Konzern über Fake-Geschäfte und Scheinvermögen in Milliardenhöhe als profitabel darzustellen, um Kredite und Anleihen zu erschleichen. Von diesen real existierenden Geldern wurden 215 Millionen Euro in dunkle Kanäle geschleust. Das glaubt die Anklage beweisen zu können.
Erfunden worden seien die nur auf dem Papier stehenden Summen in drei asiatischen Partnerfirmen und als Drittpartnergeschäfte (TPA) in Wirecard-Bilanzen eingeflossen. Das reale Geschäft sei defizitär gewesen. Nur die erschlichenen Kredite hätten einen frühen Kollaps des Konzerns vermieden.
Den Fake-Geschäften wurden Treuhandvermögen in Singapur und auf den Philippinen von in der Spitze 1,9 Milliarden Euro zugeordnet. „Tatsächlich existierten das Drittpartnergeschäft und die angeblichen Erlöse hieraus, einschließlich der angeblichen Treuhandkonten zu keinem Zeitpunkt“, sagt Bühring.
Belege und Abrechnungen hätten Braun und seine Bande buchhalterisch erfunden, um Wirtschaftsprüfer oder Banken zu täuschen. Dazu seien Verträge rückdatiert worden oder Unterschriften und Datum fehlten ganz. Teils wurden drei oder mehr Vertragsversionen gefunden. Immer stellen sie Braun als Kopf der Bande und Jan Marsalek als einstige Nummer zwei bei Wirecard als andere treibende Kraft dar.
Nach außen galt Wirecard als Vorzeigeunternehmen – zu schön, um wahr zu sein. Geschäfte seien gezielt so erfunden worden, um vorher gemachte Prognosen auf dem Papier erfüllen zu können, betont die Anklage. „Wäre die wahre Finanzlage veröffentlicht worden, wäre es zu Kurseinbrüchen gekommen“, sagt Bühring.
Mit den Lügen aber stieg der Aktienkurs. Zwischen 2015 und 2018 wurden die Hälfte aller angeblichen Konzernumsätze frei erfunden und der gesamte Gewinn, stellt die Anklage klar. Im Oktober 2019 war eine Sonderprüfung der KPMG nicht mehr zu verhindern.
Die Wirtschaftsprüfer fanden keine Belege zur Existenz von 1,9 Milliarden Euro Treuhandvermögen. Wirecard-Oberaufseher Thomas Eichelmann verlangte von Braun eine entsprechende Mitteilung an die Börse. „Belege für die öffentlich erhobenen Vorwürfe der Bilanzmanipulation wurden nicht gefunden“, formulierte der in völliger Verdrehung der Tatsachen. Im April 2020 musste des KPMG-Report im Wortlaut veröffentlicht werden. Der Kurs brach um gut ein Viertel ein. Die finale Talfahrt stand an.
Mit solchen Methoden erschlichen habe die Bande um Braun über drei Milliarden Euro an Krediten und Schuldverschreibungen, sagen die Ermittler. Sie glauben beweisen zu können, dass davon 215 Millionen Euro veruntreut wurden. Bei 35 Millionen Euro glaubt die Staatsanwaltschaft, Braun als Empfänger identifizieren zu können. Vorstandsbezüge und Dividenden des Wirecard-Großaktionärs Braun in mehrfacher Millionenhöhe seien zudem aus nie real existierenden Gewinnen gezahlt worden.
Der 53-jährige Hauptangeklagte zeichnet eine andere Realität. In der war er Opfer und nicht Täter, Betrogener und nicht Betrüger. Die TPA-Geschäfte hätten ebenso existiert wie die Treuhandmilliarden. Sie seien von den wahren Tätern geraubt worden, deren Kopf in dieser Variante der Wahrheit der flüchtige Jan Marsalek war. Beweisen muss Braun das nicht. Die Beweispflicht liegt bei der Staatsanwaltschaft.