München/Ostfildern – Zweimal nicken, dann färben sich die weißen Pfeile im Display der Datenbrille orange. Es kann losgehen. Kopf heben – Fahrt voraus. Kopf senken – Bremse. Was nach Zukunft und Science-Fiction klingt, ist für Saskia Melches Alltag. Denn mit dem Hightech-Gerät auf ihrer Nase steuert sie keinen Avatar durch virtuelle Welten, sondern lenkt ihren Rollstuhl durch die Straßen ihres Wohnorts Ostfildern – und zwar allein mit ihren Kopfbewegungen.
Mit einer Handsteuerung wäre das nicht möglich, sagt Melches. Die Frau aus der Nähe von Stuttgart hat eine schwere Muskelerkrankung und kann ihre Arme nur mit großer Mühe bewegen. So wie ihr geht es vielen Menschen, die etwa an Multipler Sklerose erkrankt oder hoch querschnittsgelähmt sind. Für sie hat das Münchener Unternehmen Munevo eine alternative Steuerung für den Rollstuhl entwickelt, die allein mit Kopfgesten arbeitet. Mehr als 200 Patienten nutzen das System bereits, meist werden die Kosten von der Krankenkasse übernommen.
Entwickelt hat Munevo die Steuerung auf Grundlage der Google Glass. Diese enthält Bewegungssensoren, die jede Kopfneigung erfassen. Das Programm übersetzt die Sensordaten in Fahrtkommandos – die wiederum über einen Adapter kabellos an den Rollstuhl übertragen werden. So können Menschen, die beispielsweise ihre Arme und Beine nicht bewegen können, ihren elektrischen Rollstuhl berührungslos lenken. Das ist angenehmer und hygienischer als etwa eine Steuerung mit dem Kinn. „Gerade auf längeren Strecken und im Winter ist die Brille ein Segen“, sagt Saskia Melches. „Dank ihr kann ich alleine einkaufen gehen und meine Neffen besuchen“.
Entstanden ist das Projekt an der Technischen Universität München. Einige Beteiligte fanden die Aufgabe so spannend, dass sie auch nach den Jahren an der Uni weiter an ihrem Programm tüftelten und schließlich das Startup Munevo gründeten. An der Mission hat sich seither nichts geändert: „Bewegungseingeschränkten Menschen ein möglichst selbstbestimmtes Leben ermöglichen“, auf diese Formel bringt Geschäftsführer Konstantin Madaus das Unternehmensziel.
Selbstbestimmtheit – für Menschen, die fast rund um die Uhr Betreuung benötigen, bedeutet das weit mehr als Mobilität. Sondern auch, ungestört telefonieren zu können. Oder ohne fremde Hilfe den Rollstuhl so zu drehen, dass man einen Blick aus dem Fenster werfen kann. Mit ihrer Steuerung wollen die Entwickler von Munevo diese Dinge möglich machen. Saskia Melches, die auch für das Unternehmen arbeitet, sieht es so: „Je eingeschränkter man ist, desto wichtiger werden die Dinge, die man noch selbst machen kann.“ Besonders wichtig sei, den Rollstuhl jederzeit verstellen zu können, ergänzt Madaus, der Fahrzeug- und Motorentechnik studiert hat. „Schließlich können sich die meisten Betroffenen nicht einfach selbst anders hinsetzen. Um ein Wundsitzen zu vermeiden, müssen sie deshalb den Rollstuhl immer wieder neu einstellen.“ Dafür nicht auf Hilfe angewiesen zu sein, sei eine große Erleichterung.
Um ihr Produkt bekannt zu machen, sind Madaus und sein Geschäftspartner Claudiu Hidas schon in der Vox-Sendung „Höhle der Löwen“ aufgetreten. Carsten Maschmeyer und seine Mitstreiter zeigten sich begeistert, eine Geschäftsbeteiligung sprang aber nicht heraus, das Produkt war einfach zu speziell. Jedoch habe sich der Auftritt allein der Aufmerksamkeit wegen gelohnt.
Die kann das Unternehmen gebrauchen, bislang führen nur wenige Sanitätshäuser die Munevo-Brille im Sortiment. Meistens wenden sich Betroffene direkt an Munevo. „Wenn sich jemand bei uns meldet, dann klären wir zunächst, ob das Gerät der Person das Leben erleichtern würde“, erklärt Madaus. Ist das der Fall, übernehmen meist die Krankenkassen die Kosten: „Wir helfen bei der Beantragung. Man muss nur die Formulare unterzeichnen und an die Krankenkasse schicken.“ Danach heißt es abwarten. Oft ließen sich die Kassen lange Zeit mit der Bearbeitung, klagt er. „Uns bereitet das Sorge, denn das Zeitfenster für eine sinnvolle Nutzung kann sich innerhalb von Monaten schließen“.
Auch wenn das System von Munevo schon jetzt futuristisch wirkt, hat die Firma große Zukunftspläne. Sie forscht an einer Gedankensteuerung, bei der Sensoren die Hirnströme messen. Für Co-Chef Madaus ist aber längst noch nicht klar, ob sich das jemals durchsetzen wird. Hirnströme zu erfassen und daraus Information abzuleiten, sei zwar schon heute möglich. „Doch die bisherigen Versuche mit der Gedankensteuerung haben vor allem gezeigt, wie hoch die Hürden sind, die es zu überwinden gilt.“
Vorerst liegt das Hauptaugenmerk deshalb auf der Weiterentwicklung der Kopfsteuerung. So arbeitet Munevo an einer Smart-Home-Funktionalität, mit der sich etwa Rollos verstellen oder Türen öffnen lassen. Auch ihr Handy können Benutzer inzwischen mithilfe der Brille bedienen. Für Menschen, die für jeden Handgriff um Hilfe bitten müssen, ist das ein großer Gewinn. Allerdings müssen diese Funktionen gesondert bei der Krankenkasse beantragt werden.
Saskia Melches hofft, dass ihre Kasse die Handyfunktion bald übernimmt. Und sie ist optimistisch, was die Gedankensteuerung angeht: „Nur an ein Ziel denken zu müssen und man fährt dorthin – für Menschen mit starken Einschränkungen wäre das eine Riesenerleichterung.“