„Bayerische Firmen sind anpassungsfähig“

von Redaktion

INTERVIEW IHK-Hauptgeschäftsführer Manfred Gößl über Chancen und Risiken im neuen Jahr

Für bayerische Unternehmen geht ein schwieriges Jahr zu Ende. Manfred Gößl, Hauptgeschäftsführer der IHK für München und Oberbayern, blickt trotz Risiken verhalten optimistisch ins neue Jahr.

Wie ist das vergangene Jahr aus Sicht der bayerischen Wirtschaft gelaufen?

Es war ein absolutes Schockjahr. Es ging los mit dem Kriegsschock am 24. Februar, darauf folgte der Inflationsschock und als Reaktion darauf der Zinsschock. Und strukturell stehen wir noch immer mitten im De-Globalisierungsschock.

Was meinen Sie damit? Die Wirtschaft de-globalisiert sich, weil Lieferketten reißen und politische Konflikte zunehmen?

Ja. Unternehmen gehen dazu über, nicht mehr an einem Ort zu produzieren und von dort zu exportieren, sondern auf mehrere autonome Produktionsstandorte zu setzen. Große Unternehmen wie BMW machen das schon so, sie produzieren an ihren Standorten in Europa, Nordamerika oder China weitgehend autonom, sie beziehen keine Zulieferteile mehr aus anderen Kontinenten.

Für einen Mittelständler ist so eine Standortstrategie aber eher unrealistisch.

Ja, vor allem die größeren Zulieferer ziehen mit. Kleine und mittlere Unternehmen fokussieren viel stärker auf die europäischen Märkte und setzen bei den Auslandsmärkten mehr auf Nordamerika statt auf China.

Aber geht es ohne China überhaupt?

Tatsächlich findet der bayerische Mittelständler kein zweites China, diesen Absatzmarkt gibt es nur einmal. Bei der Beschaffung ist es etwas einfacher: Rohstoffe kann ich auch aus Vietnam, Malaysia oder Indonesien beziehen – und genau das beobachten wir auch. Für den Mittelstand ist die Entkopplung von China ein Schock, und überhaupt wird der Gegenwind noch weiter zunehmen.

Worauf spielen Sie an?

Auf eine Welle der Bürokratie, die auf uns zurollt. Nächstes Jahr kommt das Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz, ein Jahr später das Lieferkettengesetz der EU. Dann kommen zusätzlich wahnsinnig viele Dokumentationspflichten aus Brüssel, um Umweltvorgaben einzuhalten und CO2 zu reduzieren.

Gäbe es eine alternative Klimapolitik?

Die Amerikaner machen das vor: Die stellen einen großen Sack Geld hin und motivieren dadurch ihre Firmen, in Zukunftstechnologien zu investieren – und darüber hinaus gibt es keine weiteren Vorgaben. In Deutschland und der EU versucht man dagegen alles im ordnungsrechtlichen Kleinklein zu regeln. Das belastet die kleinen Firmen übermäßig. Je mehr Bürokratie wir haben, desto weniger Mittelstand wird es geben, weil viele Betriebe irgendwann die weiße Flagge hissen.

Ist nicht der Fachkräftemangel das große Zukunftsrisiko der Wirtschaft? Wenn jetzt die geburtenstarken Jahrgänge in Rente gehen und von den Schulen weniger junge Menschen nachkommen, fehlt den Betrieben das Personal.

Wir reden daher nicht mehr vom Fachkräftemangel, sondern vom Arbeitskräftemangel. In den vergangenen Jahren haben die Fachkräfte gefehlt, jetzt finden die Betriebe nicht einmal mehr Personal für Helferjobs. Das gilt für den Bau, die Gastronomie, den Einzelhandel. Und dass es in allen Pflegeberufen seit Langem einen drastischen Mangel gibt, sollten inzwischen auch die Letzten mitbekommen haben. Gleiches gilt für die Sozialberufe, etwa Erzieher. Wenn 2026 der Ganztagsbetreuungsanspruch in der Schule kommt, lautet meine These: Das Betreuungspersonal für diese Kinder wird es nicht geben.

Wäre der einfachste Hebel eine erleichterte Zuwanderung?

Das ist ein Hebel, aber der reicht nicht aus.

Warum?

Weil wir Deutschen in unserem Hochmut noch immer glauben, dass die ganze Welt zu uns will und wir daher möglichst hohe Hürden aufbauen müssen. Arbeitskräftemangel gibt es aber auch in den englischsprachigen Ländern – etwa Kanada, Australien. In Großbritannien hat er sogar extreme Ausmaße angenommen, weil sehr viele EU-Bürger ausgewandert sind.

Was im Zuge des Brexits politisch gewollt war.

Jetzt spürt Großbritannien aber, was das bedeutet. Der Umkehrschluss ist: Wer jetzt auswandern möchte, kann sich aussuchen, in welches Land er geht. Und warum sollte ausgerechnet jemand nach Deutschland? In ein Land mit unbekannter Sprache? Ein Land, über das die Nachrichten sagen, dass es nicht gerade ausländerfreundlich sei? Ein Land, in das die Familie nicht einfach nachziehen darf? Warum nicht nach Schweden, Finnland oder Holland? Also geht man am Ende dorthin, wo man am herzlichsten willkommen geheißen wird – und da steht Deutschland sicher nicht an erster Stelle.

Was ist die Konsequenz?

Politik und Bevölkerung müssen eine Willkommenskultur erlernen, aber wahrscheinlich kommt das erst in der Not.

Gibt es einfachere Hebel, um an Arbeitskräfte zu kommen?

Wir müssen alle Potenziale heben, die es gibt. Alle Menschen, die bereits im Arbeitsleben sind, sollten mehr arbeiten. Können Teilzeitbeschäftigte auch zwei, drei Stunden länger arbeiten? Gibt es Möglichkeiten, dass Arbeitnehmer später aus dem Berufsleben ausscheiden? Wir kennen das von Speditionen: Die Fahrer gehen in Rente, aber ab und zu können sie sich durchaus eine Fahrt nach Italien oder nach Finnland vorstellen. Also brauchen wir eine Politik, die Anreize setzt, dass mehr gearbeitet wird. In unserer jüngsten Umfrage gaben 60 Prozent der bayerischen Betriebe an, dass der Arbeitskräftemangel ein großes Risiko ist. Er ist aktuell das zweitgrößte Problem der Wirtschaft.

Das größte Problem bleibt die teure Energie?

So ist es. Unabhängig von der Branche sagen 80 Prozent der Befragten: Die Energie- und Rohstoffpreise sind unser größtes Risiko.

Und das drittgrößte Risiko?

50 Prozent aller Betriebe sagten: Die wirtschaftspolitischen Rahmenbedingungen passen in Deutschland überhaupt nicht mehr. Unternehmer reagieren auf die ganzen neuen Gesetze und Vorschriften nur noch mit Sarkasmus.

Was könnte die Politik tun?

Bessere und einfachere Abschreibungsregeln einführen. Das wäre eine Maßnahme, die unmittelbar wirkt, schnell zu neuen Investitionen führt und leicht umzusetzen ist. Entsprechende Sonderabschreibungen könnten ein Turbo für den Klimaschutz und die Konjunktur sein.

Gibt es auch Grund für Optimismus?

Ja, absolut. Das ist die Anpassungsfähigkeit der kleinen und mittleren Firmen in Bayern. Die sind viel schneller als die Politik. Bis die Politik ihre Strategiepapiere fertig hat, haben sich die Firmen längst angepasst. Auch die Struktur der bayerischen Wirtschaft stimmt mich zuversichtlich: Anders als in anderen Ländern sind wir nicht von wenigen Konzernen abhängig, sondern stützen uns auf hunderttausende Familienbetriebe.

Gibt es weitere Gründe für Zuversicht?

Die gute Nachricht ist: Wir haben dank der Impfungen die Corona-Pandemie im Griff. Zumindest sehe ich aktuell keine Anzeichen, warum das nicht so sein sollte. Die Nagelprobe Oktoberfest hat bewiesen: Wir müssen nicht mehr schließen.

Was hebt noch die Stimmung in der Wirtschaft?

Die gut gefüllten Gasspeicher. Der Gasnotstand, der im Sommer befürchtet wurde, ist vorerst abgewendet. Es gibt Horror-Prognosen, die gehen von einem Einbruch der Wirtschaft in Höhe von acht Prozent aus, wenn uns das Gas über den Winter ausgeht. Auch wenn wir jetzt in eine Rezession schlittern, ist die gute Nachricht: Ganz so schlimm wie befürchtet wird es wohl nicht kommen. Nur leider wird jetzt die Traurigkeit der ganzen deutschen Energiewende offenbar.

Was genau meinen Sie?

Deutschland ist aktuell neben Polen das Land, das in ganz Europa den CO2-intensivsten Strom produziert. Das heißt: Wer jetzt sein E-Auto tankt oder mit der Wärmepumpe heizt, der hat einen enorm hohen Anteil von Kohle- und Gasstrom.

Was ist das Problem?

Wir hätten die erneuerbaren Energien schneller ausbauen, aber auch in der Nukleartechnologie drinbleiben müssen. Nicht etwa, weil sie wahnsinnig toll ist, sondern weil wir eine CO2-neutrale Absicherung brauchen, bis alternative Energieträger und massiv ausgebaute Stromnetze und Speichersysteme die Versorgung zu jeder Tag- und Nachtzeit gewährleisten. Stattdessen setzen wir jetzt voll auf Kohle und Flüssiggas-Importe – bei steigendem Strombedarf.

Wann wird in der Wirtschaft wieder so etwas wie Normalität einkehren?

Die Wahrheit ist: Eine Welt, wie wir sie 2019 hatten, wird es nicht mehr geben. Was wir aktuell beobachten, ist die neue Normalität. Wir können in Zukunft froh sein, wenn wir trotz des heftigen Gegenwinds mit einem Mini-Wachstum über die Runden kommen.

Interview: Sebastian Hölzle

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