München – Was seine Staatsfinanzen angeht, sieht sich Deutschland gerne als Musterschüler. Gerade 2012, als Griechenland kurz vor der Pleite stand, zeigten die Deutschen mit dem Finger auf die Südeuropäer, die offenbar über ihre Verhältnisse gelebt hatten. Rechnet man aber neben den Staatsschulden auch Verpflichtungen wie Renten mit ein, die in den nächsten Jahrzehnten stark steigen werden, ist Deutschlands fiskalische Situation heute jedoch bedenklicher als die des einstigen Sorgenkinds Griechenland. Das legt jedenfalls eine Studie der arbeitgebernahen Stiftung Marktwirtschaft von Ende 2021 nahe, die auf Daten der EU-Kommission basiert.
„Europa wird älter und die Gruppe der Alten mithin größer“, erklärten die Autoren um den Freiburger Ökonom Bernd Raffelhüschen ihren Ansatz. „Dadurch ist mit steigenden Ausgaben für Rente, Pflege und Gesundheit zu rechnen.“ Auf die altersbedingten Kostenexplosionen seien aber nur die wenigsten Staaten gut vorbereitet. Deshalb haben Raffelhüschen und seine Kollegen alle EU-Länder auf ungedeckte demografische Ausgaben durchleuchtet, die sie „unsichtbare“ oder „implizite Schulden“ nennen und die Europas Staatshaushalte bis 2070 in Schieflage bringen könnten. „Deren finanzielle Dimension wird fatalerweise gerne unterschätzt, dabei stellen die impliziten Schulden in vielen Ländern die expliziten deutlich in den Schatten.“
Wie stark diese unsichtbaren Schulden die fiskalische Bewertung eines Landes beeinflussen, zeigt das Beispiel Griechenland. Was die gesamte Finanzlage angeht, ist Griechenland nämlich überraschend Europas Klassenprimus. Zwar hatten die Griechen zum Zeitpunkt der Datenerhebung mit 181 Prozent der Wirtschaftsleistung nach wie vor enorm hohe Staatsschulden. Dafür musste sich Athen in der Schuldenkrise auf drastische Einsparungen, Rentenkürzungen und Kahlschläge im Gesundheitssystem verpflichten, um Finanzhilfen zu erhalten. Das war schmerzhaft. Von der Rosskur dürfte Griechenland laut den Autoren jedoch bis 2070 mit einem finanziellen Überschuss von 355 Prozent der Wirtschaftsleistung profitieren. Der liegt deutlich über den Staatsschulden und beschert dem vermeintlichen Schuldenstaat langfristig sogar eine positive Bilanz. Ähnlich solide aufgestellt sind lediglich Estland und Kroatien.
Deutschland droht hingegen aufgrund der hohen impliziten Schulden immer weiter ins Minus abzurutschen. Hier addieren die Autoren zu den 60 Prozent Staatsschulden noch 105 Prozent an unsichtbaren Schulden, weil das Land seine altersbedingt steigenden Renten und Sozialausgaben mit den zu erwartenden Einnahmen vermutlich nicht decken kann. Unter dem Strich stehe damit eine deutsche Gesamtverschuldung von 164 Prozent der Wirtschaftsleistung, die sogar noch höher sei als jene in Italien, Zypern oder Portugal. Diese Ländern mussten in der Schuldenkrise ebenfalls Reformen und Kürzungen durchführen. Ob sie ihre Finanzen damit wirklich dauerhaft stabilisieren, hänge davon ab, ob sie die Reformen durchhalten – und hier sind die Autoren sehr skeptisch.
Besonders schlecht schneiden in der Auswertung übrigens die Slowakei, Rumänien, Luxemburg und Slowenien ab, die wie Deutschland relativ niedrige explizite Schulden haben. Nehme man die impliziten Schulden hinzu, liege die Gesamtverschuldung dort je zwischen 500 und über 700 Prozent der Wirtschaftsleistung. Das ist weit über dem EU-Schnitt von 192 Prozent, der nahe dem deutschen Wert liegt.
„Die EU-Bürger werden älter, die Gruppe der älteren Bevölkerung wird größer und die Geburtenraten stagnieren auf niedrigem Niveau – das wird teuer für die Mitgliedstaaten“, bilanzieren die Autoren um Raffelhüschen, der immer wieder in der Kritik steht, Arbeitgeberverbänden und der Versicherungswirtschaft sehr nahe zu sein. Ziel der EU müsse eine Reform der Sozialsysteme sowie Rentenkürzungen sein. „Praktisch wäre dies durch eine Indexierung oder Kopplung der Rentenzahlungen an die Lebenserwartung umsetzbar, die aber nicht verzögert, sondern so früh wie möglich in Kraft treten sollten.“
ANDREAS HÖSS