„Uns drohen leere Regale wie in England“

von Redaktion

INTERVIEW Logistik-Experte Dirk Engelhardt warnt vor extremem Mangel an Lkw-Fahrern

München/Frankfurt – Weihnachten ist vorbei und für die Logistikbranche heißt das: durchatmen. In keiner anderen Phase des Jahres ist die Branche so gefordert wie in der „stillen Zeit“, in der die Deutschen wie wild im Internet bestellen. Hunderte Millionen Pakete müssen kreuz und quer durch die Republik gefahren werden, nebenher wollen auch die Supermärkte und andere Geschäfte beliefert werden. Doch im Dezember ist der Lkw-Verkehr überraschend um fünf Prozent eingebrochen, was wohl auch an einer Krankheitswelle lag. Welche Nöte die Branche hat, erklärt Dirk Engelhardt, Chef des Bundesverband Güterkraftverkehr, Logistik und Entsorgung (BGL).

Herr Engelhardt, im Dezember ist der Lkw-Verkehr eingebrochen. Was waren die Gründe?

Das war ein Mix aus der aufziehenden Rezession und den kalten Temperaturen im Advent. Aber auch die Erkältungswelle hat eine Rolle gespielt. Sie hat gezeigt, wie dünn die Fahrerdecke mittlerweile ist. Da wird jeder Ausfall zum Problem.

In England blieben schon Supermarkt-Regale leer und Tankstellen ging der Sprit aus, weil keine Lkw kamen. Bei uns ist die Lage nicht so brisant, oder?

Noch nicht ganz. Aber wenn wir nicht gegensteuern, haben wir in ein oder zwei Jahren englischen Verhältnisse mit leeren Supermarktregalen. Wir warnen schon seit 2006 vor einem extremen Fahrermangel, bisher ohne Erfolg. Allein in Deutschland fehlen 100 000 Fahrer und das Loch wird immer größer, weil jedes Jahr 30 000 bis 35 000 in Rente gehen und nur 15 000 bis 20 000 nachkommen. Das lässt sich mit Fahrern osteuropäischer Speditionen nicht mehr kompensieren. Deren Fahrer wollen auch nicht monatelang durch Westeuropa touren, ohne ihre Familien zu sehen.

Es drohen also tatsächlich Versorgungsengpässe?

Mittelfristig schon. Wir hören von vielen Fuhrunternehmen, dass sie Fahrzeuge stilllegen und Bestellungen stornieren, weil ihnen die Fahrer fehlen. Oft übernehmen Disponenten und Firmenchefs selbst Touren – das kann kein Dauerzustand sein. Es waren auch schon große Lebensmittel- und Supermarktketten bei uns, die verzweifelt auf der Suche nach Transportfirmen waren, weil keiner ihre Aufträge annimmt. Man muss wissen: 80 Prozent der Waren und Güter in Deutschland werden auf der Straße transportiert. Was passiert, wenn Lieferengpässe drohen, konnte man während Corona sehen. Stichwort: Klopapier!

Woran liegt der Fahrermangel? Am Lohn?

Wir haben dazu eine Umfrage durchgeführt. Da wurden drei Dinge genannt: geringe Löhne, schlechte Arbeitsbedingungen und das schlechte Image der Branche, die von Medien und einigen Politikern immer wieder an den Pranger gestellt wird. Das führt alles dazu, dass heute viel weniger junge Menschen Lkw-Fahrer werden wollen.

Um den Job attraktiver zu machen, müssen die Transportfirmen die Löhne spürbar anheben, oder?

Das haben sie seit geraumer Zeit getan. Die Branche hatte bis 2020 aber im Schnitt nur eine Gewinnmarge von 0,1 bis 1,5 Prozent. Zugleich gab es bei vielen Firmen schon mehrere Lohnerhöhungen, die Personalkosten sind zuletzt regelrecht explodiert. Das mussten sie über höhere Frachtkosten an die Kunden weitergeben, was die Inflation zusätzlich angeheizt hat. Doch der Lohn allein lockt nicht genug Nachwuchs an.

Was dann?

Die Politik muss ein Bündel an Maßnahmen verabschieden. Zum Beispiel sollten die Fahrerausbildungen durch die Bundesagentur für Arbeit subventioniert werden. Ein Lkw-Führerschein kostet etwa 13 000 Euro. Das kann kein junger Mensch aus eigener Tasche bezahlen.

Wieso sollte der Staat die Ausbildung finanzieren?

Weil es sich die Firmen auch nicht leisten können. Außerdem gibt es mittlerweile oft Kopfprämien. Es kann also sein, dass ein Transportunternehmen für viel Geld einen neuen Fahrer ausbildet, der dann für eine Prämie und 100 Euro mehr Gehalt zu einem Konkurrenten wechselt.

Könnte man in Stoßzeiten zum Beispiel ältere Fahrer einsetzen, um den Mangel zu dämpfen?

Theoretisch ja, für das Weihnachtsgeschäft wäre das toll. Aber: Fahrer müssen ab einem gewissen Alter alle fünf Jahre zu Sehtests und medizinischen Untersuchungen und auch in der Rente in Präsenzveranstaltungen Weiterbildungen machen, wenn sie ihren Führerschein behalten wollen. Das führt dazu, dass ihn viele im Ruhestand abgeben, weil ihnen der Aufwand zu groß ist. Für einen Fahrer in Reserve müsste doch eine Bescheinigung vom Hausarzt und eine Online-Fortbildung reichen, oder? Auch bei der Beschäftigung von Arbeitskräften aus Nicht-EU-Ländern gibt es viel zu viele Hürden.

Welche zum Beispiel?

Will man einen Tunesier oder Marokkaner hier anstellten, muss der seine Berufskraftfahrer-Qualifikation auf Deutsch machen. Wieso? Der muss doch keinen Medikamenten-Beipackzettel lesen, sondern Container von Hamburg nach München fahren. Das tun sowieso täglich tausende Fahrer von Firmen aus Osteuropa, die kein Wort Deutsch sprechen.

Bisher sprechen Sie immer von Fahrern, aber nie von Fahrerinnen. Spielen die für Sie keine Rolle?

Doch, aber wir haben nun mal bisher eine Frauenquote von nur 2,1 Prozent. Die müssen wir dringend erhöhen.

Wie soll das gehen?

Das geht aus meiner Sicht nur, wenn wir die Lkw autark machen. Man kann Lastwagen mit Bett und Kühlschrank bestellen, aber nicht mit Nasszelle. Das verhindert die Längenbegrenzung. Würde man einen Meter mehr Länge erlauben und den Zuwachs auf das Führerhaus begrenzen, könnte man wie im Wohnmobil Dusche und Toilette installieren. Das wäre ein riesiger Komfort- und Sicherheitsgewinn – natürlich auch für Fahrer und nicht nur für Fahrerinnen.

Wären bessere Rastplätze auch eine Möglichkeit?

In Deutschland fehlen 40 000 Parkplätze für Lkw an Autobahnen. Und gerade auf kleinen Parkplätzen sind die Toiletten oft völlig verdreckt, da will man sich nicht wirklich waschen oder die Zähne putzen. Die Realität sieht deshalb so aus, dass Fahrer in Gewerbegebieten übernachten und hinter dem Gebüsch auf die Toilette gehen müssen. Wir stehen mit dem Verkehrsminister in Kontakt und bringen das seit Jahren im Verkehrsausschuss vor, aber bisher passiert nichts!

Vielleicht setzt die Bundesregierung ja darauf, dass es bald nur noch selbstfahrende Lastwagen gibt. In den USA gibt es viele Versuche dazu.

Trotzdem werden auch in den USA Fahrer händeringend gesucht. Die Transportfirmen haben dort die Jahresgehälter deshalb oft auf 100 000 Dollar erhöht. Autonomes Fahren mag vielleicht auf Highways in Kalifornien funktionieren, im Londoner Nebel oder bei Schneetreiben in München kommen die Sensoren aber regelmäßig an ihre Grenzen. Dann muss weiter der Fahrer eingreifen, um Schlimmeres zu verhindern. Wie im Flugzeug wird der Autopilot auch im Auto den Menschen nicht überflüssig machen. Schon allein, weil er die Verantwortung trägt, die Ladung sichert und übergibt. Den Medienhype um das Thema finde ich deshalb gefährlich. Er suggeriert jungen Menschen völlig zu Unrecht, dass sich eine Ausbildung zum Berufskraftfahrer nicht mehr lohne.

Interview: Andreas Höß

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