Frau Ingenschay, Herr Loroch, Sie fordern zwölf Prozent mehr Lohn. Das ist die höchste Lohnforderung, die Ihre Gewerkschaft je erhoben hat. Warum ist das notwendig?
Cosima Ingenschay: Wir haben eine Inflation, wie wir sie sehr lange nicht mehr hatten. Die Teuerung trifft vor allem die, die sowieso schon weniger haben. Wir haben Kollegen, die sich am Monatsende überlegen müssen, ob sie ihr Auto volltanken, um damit zur Arbeit zu fahren, oder ob sie einkaufen gehen. Diese Situation ist nicht tragbar. Deshalb sind uns die 650 Euro als Mindestkomponente so wichtig. Auf der anderen Seite haben wir in den vergangenen Tarifrunden eher zurückhaltende Abschlüsse gehabt, weil es damals um Arbeitsplatzsicherheit ging. Da hatten wir keine Lohnsteigerung im Fokus, das müssen wir jetzt aufholen.
Der Personalvorstand der Deutschen Bahn, Martin Seiler, warnte, man dürfe die „Zukunftsorientierung“ der Bahn nicht aus den Augen verlieren. Gefährden Sie mit Ihren Forderungen die Zukunft der Bahn?
Kristian Loroch: Ich glaube, dass Herr Seiler mit solchen Äußerungen sein eigenes Geschäftsmodell gefährdet. Denn er braucht ja nicht nur Material wie Züge oder Gleise, sondern vor allem Menschen. Und im Übrigen fordern wir nicht die Schaffung von Einkommensmillionären. Unsere Forderung gefährdet weder das Unternehmen noch die Verkehrswende. Wir haben in Großbritannien gesehen, was passiert, wenn etwa Lkw-Fahrer fehlen. Diesen Exodus aus dem Niedriglohnbereich heraus erleben wir in unseren Branchen auch. Dabei spricht man ja schnell von einem Fachkräftemangel, und natürlich bilden wir auch zu wenige junge Menschen aus. Aber wir haben vor allem einen Entgeltmangel. Es ist wie in der Pflege: Mehr Menschen würden unseren Beruf machen, wenn er denn ordentlich bezahlt würde.
Sie haben schon angekündigt, dass es schnell zu einer Auseinandersetzung mit den Arbeitgebern kommen kann. Wann wird gestreikt?
Cosima Ingenschay: Streiks sind immer das letzte Mittel. Aber wir verhandeln mit 50 Unternehmen gleichzeitig, ein Verhandlungszyklus dauert vier bis sechs Wochen – das zieht sich also. Deshalb erwarten wir von den Arbeitgebern schon in der ersten Runde Angebote, über die man sprechen kann. Wir haben keine Zeit für Tarif-Folklore. Wenn unsere Erwartungen nicht erfüllt werden, dann sehen wir weiter. Kristian Loroch: Wir versuchen, die Arbeitgeber nicht zu überfordern. Denn wir sprechen ja nicht nur über die Entgeltforderung, sondern auch über einige strukturelle Themen – zum Beispiel den Mindestlohn oder die ungleiche Bezahlung in Ost und West, aber auch in Nord und Süd. Da haben wir Vorarbeit geleistet und den Arbeitgebern schon erläutert, was wir uns vorstellen.
Derzeit laufen einige Tarifrunden, zum Beispiel bei der Deutschen Post und für den öffentlichen Dienst. Wie arbeiten Sie mit der Gewerkschaft Verdi zusammen?
Cosima Ingenschay: In den nächsten Wochen werden wir uns eng abstimmen, denn unsere Wege werden sich in den Verhandlungen kreuzen – zum Beispiel bei den kommunalen Busbetrieben. Und als DGB-Gewerkschaften sprechen wir uns sowieso ab. Wenn wir nach Großbritannien schauen, dann sehen wir auch, wie erfolgreich gemeinsam orchestrierte Streiks sind.
Vor Kurzem hat Verdi die Flughäfen lahmgelegt. Nun drohen Sie mit einem Streik. Das ist doch Futter für den Arbeitgeberverband, der von einem zunehmend „unberechenbaren Arbeitskampfrecht“ spricht.
Kristian Loroch: Unsere Streiks zielen nicht auf die Fahrgäste. Und unsere Forderung ist letztendlich ja auch im Sinne der Fahrgäste: Wenn das Personal fehlt, bleiben Züge stehen. Cosima Ingenschay: Genau, wer regelmäßig Bahn fährt, spürt den Personalmangel jetzt schon. Es gibt DB-Busunternehmen, die Kinder nicht mehr zur Schule fahren können, weil sie keine Leute haben. Kristian Loroch: Das ist der Zwiespalt: Da sitzt jemand am Steuer, dem wir unsere Kinder anvertrauen – das Wertvollste, was wir haben. Trotzdem wird der Busfahrer oder die Busfahrerin nicht entsprechend bezahlt. Da erhoffen wir uns Rückhalt aus der Bevölkerung.
Interview: Steffen Herrmann