Schweiz: Hier kann man sich Teilzeit leisten

von Redaktion

VON JÜRGEN DUNSCH

Bern – In der Schweiz gehen manche Uhren anders – andere ticken genauso wie in Deutschland. Die Inflation hält sich mit zuletzt 3,4 Prozent in Grenzenm und eine Rezession ist nicht in Sicht. Produkte aus der Schweiz sind in vielen Teilen der Welt gefragt. Gleichzeitig treten auch in der Schweiz allmählich die Babyboomer in den Ruhestand. Schätzungsweise 300 000 Arbeitskräfte braucht das Land in den nächsten Jahren. Aber die Eidgenossen wollen eigentlich weniger arbeiten. Zugleich soll die Zuwanderung gebremst und die sich verschärfende Wohnungsknappheit gemildert werden. Wie das alles gelingen soll, ist die 1000-Franken Frage.

Umfragen belegen den Wunsch nach der Vier-Tagewoche mit einem 80-Prozent-Pensum. Spielte Geld keine Rolle, würden vielen sogar 60 Prozent reichen, zeigt eine Erhebung des renommierten Instituts Sotomo. Solche Ergebnisse kämen wahrscheinlich auch in Ländern wie Deutschland zustande, aber in der reichen Schweiz können sie grundsätzlich leichter verwirklicht werden. Zugleich sind sich laut Sotomo die Befragten mehrheitlich darüber im Klaren, dass angesichts des Fachkräftemangels eigentlich mehr gearbeitet werden müsste. Bisher richtet es die Zuwanderung, die 2022 bezogen auf die Bevölkerungszahl netto ungefähr so stark war wie in Deutschland. So kamen gut 90 000 Arbeitskräfte für eine langfristige Stelle ins Land, das sind 26 Prozent mehr als im Vorjahr. Die guten Gehälter sorgen für einen steten Zustrom. Im Ausländeranteil liegen die Deutschen in der Schweiz mit einem Anteil von 14 Prozent nach den Italienern mit 15 Prozent auf Rang 2 der 2,2 Millionen betragenden ausländischen Wohnbevölkerung. Aber auch andere EU-Bürger nutzen die ungehinderte Einwanderung zur Arbeitsaufnahme gerne. Zusammen mit den mehr als 75 000 Ukrainerinnen sowie den anderen Flüchtlingen verschärft das die Wohnungsnot. In Zürich und Genf muss man ein Domizil mit der Lupe suchen, Mieten und Nebenkosten schießen in die Höhe. Wer im Hotspot München gut 2000 Euro für eine Vier-Zimmer-Wohnung zahlt, muss in Zürich mit umgerechnet 1000 Euro mehr rechnen.

Die wachsende Beliebtheit von Teilzeitjobs verschärft die Lage. Valentin Vogt, der Chef des Arbeitgeberverbandes, meint, „der Zeitgeist und die schiere Not der Arbeitgeber“ beförderten den Trend. Er liegt offen zutage. Arbeitete vor 30 Jahren ein Viertel der Erwerbstätigen Teilzeit, sind es inzwischen mehr als ein Drittel. Teilzeitarbeit ist eine Domäne der Frauen, die Zuwachsraten kommen indes von den Männern.

Über die Gründe darf vorläufig gerätselt werden. Der Bildungsökonom Stefan Wolter meinte unlängst in der Schweizer „Sonntagszeitung“: „Verbringen die heutigen Neopapis nicht mindestens einen Tag mit den Kindern, gelten sie als Rabenväter“. Auf den Straßen der Städte ist der Wandel schon sichtbar. Besonders 80-Prozent-Stellen sind bei den Vätern sehr beliebt. Andererseits sollen noch mehr Frauen für den Arbeitsmarkt gewonnen werden. Ob das gelingt, ist offen. Schon jetzt arbeiten sie dreimal so häufig in Teilzeit wiedie Männer.

Die Anstrengungen für mehr Frauen konzentrieren sich derzeit auf eine Senkung der in der Schweiz sehr hohen Kita-Kosten, um Beruf und Familie besser unter einen Hut zu bringen. Auch infolge der Teilzeitjobs sinkt die Arbeitsleistung im Land. Laut OECD-Statistik beträgt der Durchschnittswert inzwischen 1495 Stunden im Jahr oder 31 Wochenstunden pro erwerbstätige Person.

Zugleich bildet sich in der Arbeitswelt immer deutlicher ein Wohlstandseffekt heraus. Nicht Kinder und pflegebedürfte Alte legen Teilzeitarbeit nahe, sondern die Work-Life-Balance. Bei einem von der Regierung in Bern für 2022 ermittelten Bruttoinlandsprodukt pro Kopf von kaufkraftbereinigt fast 82 000 Dollar (für Deutschland werden rund 63 300 Dollar genannt) sollte das nicht verwundern. Zudem können gerade in der Schweiz viele Beschäftigte auf ansehnliche Erbschaften hoffen. Das mildert alle Furcht vor Altersarmut.

Beunruhigend ist, dass nicht zuletzt Akademiker trotz hoher Ausbildungskosten seitens der Allgemeinheit der „Dolce- Vita-Gesellschaft“ frönen, wie es unlängst in der NZZ hieß. Bildungsökonom Wolter meint, dass sie mindestens 70 Prozent arbeiten müssten, um den erhöhten Hochschulaufwand über ihre Steuern abzugelten. Das Thema ist gesetzt. Ungeachtet aller praktischen Schwierigkeiten erschallt schon der Ruf nach zusätzlichen, nachgelagerten Studiengebühren durch die Arbeitsabstinenzler.

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