Zoff um das Europäische Patentamt

von Redaktion

VON THOMAS MAGENHEIM-HÖRMANN

München – Es ist eine Rekordbilanz, die das Europäische Patentamt (EPA) in München präsentiert. Exakt 193 460 Anmeldungen für Erfindungen sind 2022 dort eingegangen, ein Plus von 2,5 Prozent und damit so viele wie nie. Vor allem grüne Technologien würden angemeldet, sagt Patentamts-Chef Antonio Campinos. „Der anhaltende Aufschwung auf diesem Gebiet trägt dazu bei, die Energiewende voranzubringen.“ Auf internationaler Ebene sticht China hervor mit gut 15 Prozent mehr auf 19 041 Anmeldungen, was das Land zur Patentmacht Nummer vier macht. Deutsche Erfinder, global auf Rang zwei hinter den USA, schwächeln dagegen statistisch gesehen mit fast fünf Prozent Rückgang auf 24 684 Schutzersuchen.

Das könnte Besorgnis auslösen oder man hat eine Sicht der Dinge wie Beat Weibel: Er ist Patent-Chef von Siemens. Sein Konzern liegt in der EPA-Firmenstatistik des Vorjahrs mit 1735 Anmeldungen weltweit auf Rang sechs und ist damit Deutschlands aktivster Anmelder. „Es geht nicht darum, möglichst viele Patente anzumelden, sondern möglichst gute“, erklärt er seine Philosophie. Die des EPA sei eine andere. „Dort scheint alles darauf ausgerichtet zu sein, ein Patent schnell und so effizient wie möglich zu erteilen“, kritisiert Weibel.

Der Siemens-Vertreter ist mit dieser Ansicht nicht allein: Vorigen Herbst wurde die Initiative Industry Patent Quality Charter gegründet, kurz IPQC.

Dem IPQC gehören neben dem Münchner Siemens-Konzern 19 weitere Unterzeichner an, darunter der Pharmakonzern Bayer und die Deutsche Telekom, aber auch Firmen wie Nokia, Vodafone und Qualcomm. Das Bündnis fordert vom europäischen Patentamt einen Kurswechsel mit Rückbesinnung auf Qualität und Transparenz bei Patentrecherche sowie Patent-erteilung. Der geballten Industriekritik angeschlossen haben sich etliche Patentanwälte sowie der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI).

„Ausgezeichnete Initiative, sehr geschätzt“, lobt BDI-Chef Siegfried Russwurm den IPQC. Die Qualität von Patenten sei entscheidend für deren Wert und Rechtsbeständigkeit. Die Patentamt-Kritiker sehen Belege für eine sinkende Prüfqualität im Amt. Von 2015 bis 2021 sei die Erteilungsrate für Patentanträgen von 61,5 auf über 70 Prozent gestiegen, hat der IPQC mithilfe des BDI ermittelt. Es werden von Prüfern also immer mehr Patente erteilt als verworfen. Was parallel dazu wächst, ist die Widerrufsquote und zwar von 41 auf 46 Prozent. Wer ein erteiltes Patent der Behörde anficht, hat immer öfter Erfolg, was bei Unternehmen Investitionen gefährden kann, da sie auf Patenten basieren.

„Zusammen mit eigenen Erfahrungen erscheint das den IPQC-Mitgliedern ein gutes Indiz dafür zu sein, dass eine umfassende Prüfung von Patenten offenbar nicht mehr hinreichend möglich ist“, folgert Siemens-Patent-Chef Weibel und sieht eine Praxis, die betont auf Durchsatz setzt. Zu Erfahrungen, die Siemens selbst bei Patentschriften macht, passt es nicht. „Vor allem in der digitalen Welt wird es immer schwieriger, Erfindungen zu verstehen und zu patentieren“, sagt Weibel. Deshalb bräuchten konzerneigene Patentanwälte immer länger zur Ausarbeitung von Patenten, während EPA-Prüfer immer weniger Zeit hätten, kritisiert der Manager.

Ein Patentamtsprüfer, der anonym bleiben will, bestätigt das. „Es gibt Druck, dass wir immer mehr produzieren, damit geht die Qualität runter“, sagt er. 2015 habe er noch drei Tage Zeit gehabt, ein Patent zu prüfen. „Jetzt sind es weniger als zwei Tage.“ Ein Punktesystem, das für Aufstieg und damit bessere Bezahlung maßgeblich sei, fördere Patenterteilungen. Ablehnungen müsse man genau begründen und Betroffene zum Gespräch einladen. Das koste Zeit, in der man nicht prüfen und Punkte sammeln könne. „Wir müssen die Augen schließen und im Zweifel erteilen.“

Im Februar haben sich Vertreter des Europäischen Patentamtes und IPQC erstmals getroffen, um zu reden. Die Behörde habe die Vorwürfe abgestritten, berichtet Siemens-Manager Weibel und glaubt zu wissen, warum das Amt auf immer mehr Patente in kürzerer Zeit setzt: Bis zu 10 000 Euro koste es einen Anmelder, bis eine Erfindung in ein Patent münde. Mehr Patente ließen die Einnahmen des Amts steigen, was den 39 europäischen Staaten, die es tragen, finanziell zugutekomme. „Aber es geht auch um Innovationen der europäischen Industrie“, findet Weibel. Das gelte besonders für das Europäische Einheitspatent, das im Juni in Kraft treten wird. Nicht das Maximieren von Einnahmen sollte dabei im Vordergrund stehen, mahnt der Siemens-Patent-Chef. Steuere das Patentamt nicht um, werde Siemens verstärkt bei nationalen Patentämtern wie dem deutschen oder dem der USA anmelden. Die gingen auf eigene Bedürfnisse mehr ein. Dagegen bediente das Europäische Patentamt eher asiatische Konzerne, die auf Masse statt Klasse setzten.

Speziell Anmeldungen aus China wiesen keine erkennbar schlechtere Qualität auf als die westlicher Konzerne, entgegnet das EPA. Weniger Anmeldungen aus Deutschland seien dem Umstand geschuldet, dass typisch deutsche Erfinderdomänen wie Maschinenbau oder Verbrennertechnik allgemein keine Wachstumsbereiche mehr seien und deutsche Erfinder in hoch innovativen Bereichen wie der digitalen Kommunikation nicht so viel zu bieten hätten. Zu den Vorwürfen des IPQC will sich das EPA vorerst nicht äußern und verweist auf laufende Gespräche. Im April oder Mai ist ein neues Treffen von Industrie und Amt geplant.

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