München – Von außen ist das Siemens-Werk kaum zu erkennen: Wer an der S-Bahn-Station München-Allach auf dem Bahnsteig steht, sieht an der Fabrikhalle gegenüber lediglich ein Logo von Krauss Maffei. Siemens teilt sich das Firmengelände mit dem Maschinenbauer. Dass Siemens hinter den Zäunen über eigene Hallen verfügt, können S-Bahn-Fahrer aber erahnen: Auf einem Abstellgleis nahe des S-Bahnhofs parken Tag für Tag frisch lackierte Lokomotiven. Einige sind orange, manche blau, andere rot. An einem Tag stehen zwei Loks auf dem Gleis, ein paar Tage später sind es fünf. Auffällig: Das Design ist immer gleich. Was hier wartet, sind nagelneue Lokomotiven vom Typ Siemens Vectron. Nach ihrer Abholung sollen sie Güter- und Personenwaggons quer durch Europa ziehen.
„Fast 1300 Vectron-Loks haben wir in Allach bereits gebaut, über 700 weitere sind bestellt“, sagt Karl Blaim, einer der beiden Geschäftsführer der Zugsparte Siemens Mobility. „Unsere Vectron-Flotte ist inzwischen 700 Millionen Kilometer gefahren, das entspricht etwa der Entfernung von der Erde zum Jupiter.“ Blaim ergänzt: „Wenn wir entsprechend unseres Auftragsbestandes weiter ausliefern, werden wir Mitte 2025 am Saturn ankommen.“
Damit das gelingt, will Siemens die Münchner Fabrik kräftig ausbauen. „Da Krauss Maffei Technologies sein Werk nach Parsdorf verlegt, können wir in Allach unsere Kapazität erweitern“, sagt Blaim. Statt auf 50 000 Quadratmetern soll der Vectron auf 80 000 Quadratmetern hergestellt werden. „Wir können ab sofort mehr als 300 Lokomotiven pro Jahr in Allach bauen“, sagt Blaim. Die Zahl der 1600 Beschäftigten am Standort soll wachsen.
„Allach ist der Beweis dafür, dass man auch am Standort Deutschland und am Standort München industrielle Produktion wettbewerbsfähig und profitabel gestalten kann, wenn man das richtige Konzept hat“, sagt Blaim.
2001 hatte Siemens das Lokomotivgeschäft von Krauss Maffei vollständig übernommen. „2007 haben wir die Entscheidung getroffen, den Markt in Europa mit dem Vectron zu revolutionieren“, erinnert sich Karl Blaim. 2010 startete die Produktion. „Anders als jede andere Lok auf dem Markt ist der Vectron ein Standardprodukt, das als eine Art Baukastensystem beliebig kombinierbar ist.“
Für Bahnbetreiber hat der etwa 9000 PS starke und bis zu 90 Tonnen schwere Baukasten einen Vorteil. Denn das elektrifizierte Schienennetz in Europa ist ein historisch gewachsener Flickenteppich. Gleichstrom in Italien, 15 Kilovolt Wechselstrom bei 16,7 Hertz in Teilen Mitteleuropas, 25 Kilovolt bei 50 Hertz etwa in Osteuropa, hinzu kommen unterschiedliche nationale Zugsicherungssysteme. Im grenzüberschreitenden Schienenverkehr ein Problem, etwa bei Güterzügen: „Man muss sich einmal in die Position dieser Unternehmen hineinversetzen: Da kann es sein, dass ich heute einen Auftrag von Deutschland in die Schweiz habe. Ich weiß aber nicht, ob ich in zehn Jahren von der Slowakei aus in die Schweiz fahren muss“, erläutert Blaim.
Die Lösung: Basierend auf Modulen fertigt Siemens den Vectron in Allach abhängig vom Kundenwunsch immer anders. Elektromotor, Transformator, Stromabnehmer – Siemens verspricht für fast alle europäischen Bahnkorridore einen passenden Vec-tron. Deutschland, Skandinavien, Osteuropa, Südeuropa, die Türkei, inzwischen darf der Vectron in 20 europäischen Ländern auf die Schiene. Und dank eines historischen Großauftrags in Ägypten sollen 35 Loks aus Allach bald durch die Sahara rollen.
„Für einen Vectron ist es kein Problem, eine Zulassung für mehrere Länder gleichzeitig zu erhalten“, erläutert Blaim. Falls sich die Stromsysteme unterscheiden, klappt der Lokführer den Stromabnehmer für das eine Land ein, ein zweiter für das Zielland wird ausgefahren. „Und wenn ein Kunde ein weiteres Land bedienen will, für das die Lokomotive noch keine Zulassung hat, können wir die Lok dank ihrer modularen Bauweise einfach umrüsten“, sagt der Manager. „Ein Vectron wird niemals alt.“
Auf Wunsch bestücken die Monteure in Allach die Loks zusätzlich mit Diesel-Aggregaten, damit Bahnbetreiber ihre Züge auch auf nicht elektrifizierte Streckenabschnitte schicken können. In Zukunft sollen Batterien die Dieselmotoren ablösen, sagt Blaim.
Käufer des Vectron sind zur einen Hälfte Leasing-Firmen, sie setzen die Loks meist im Güterverkehr ein. Die andere Hälfte der Kunden sind nationale Bahngesellschaften wie beispielsweise die ÖBB in Österreich, die SBB in der Schweiz oder DB Cargo in Deutschland. Im Personenverkehr plant die Deutsche Bahn den Einsatz des Vectron in Oberstdorf im Allgäu und auf der Nordsee-Insel Sylt – auf beiden Strecken existieren keine Oberleitungen.
Die Beliebtheit des Vectron ist ein Grund für den Erfolg des Werks in München-Allach. Der zweite Grund ist die hohe Produktivität am Standort. „Die Erhöhung unserer Produktionskapazität von 100 Stück auf jetzt 300 Stück pro Jahr ist uns nur gelungen, weil wir unsere Prozesse optimiert und digitalisiert haben“, sagt Karl Blaim.
Erstes Beispiel: Jede maßgeschneiderte Lok aus Allach verfügt über einen „digitalen Zwilling“. In Form von Nullen und Einsen ist jedes Detail gespeichert. Das beschleunigt die Entwicklung, genauso Wartungen, Reparaturen und Nachrüstungen.
Zweites Beispiel: In Allach übernehmen Laser-Roboter die Schweißarbeiten – was die Produktivität erhöht.
Drittes Beispiel: Während die Autoindustrie Kabelbäume fast nur noch aus Osteuropa importiert, fertigt Siemens die komplexen Stränge selbst – dank eines in Allach entwickelten Systems: Laserpunkte zeigen den Arbeitern, wo Kabel abgeschnitten werden müssen. Das sorgt für Tempo in der Fertigung. Und gerade erst hat ein Student die Montage der Stecker dank Robotertechnik vereinfacht.
Heute zählt der über 100 Jahre alte Lokomotiv-Standort Allach zu den modernsten in Europa. Siemens-Manager Blaim betont: „Ich gehe davon aus, dass 300 Vectron-Loks pro Jahr nicht das Ende der Fahnenstange sind.“