Die Pleite der Silicon Valley Bank, die Einlagen von Start-up-Unternehmen eingesammelt und sie in Wertpapiere investiert hatte, erinnert an den sogenannten Gründerkrach des Jahres 1873, der von den deutschsprachigen Ländern ausgegangen war und die ganze Welt erfasst hatte. Damals entstammten die wichtigsten Start-ups dem Verarbeitenden Gewerbe, zum Beispiel aus den Bereichen Eisenbahn, Elektrik und Chemie. Es ließen sich aber auch viele neue Banken und Finanzunternehmen mit der Flut treiben.
In der Tat waren es solche Unternehmen, die nach dem Platzen einer gewaltigen Wirtschaftsblase aus dem Ruder geraten waren und eine Bankenkrise hervorgerufen hatten. Als Reaktion auf die Krise gab es in Deutschland eine wichtige Reform des Bilanzrechts, die auch heute wegweisend sein könnte.
Unter dem Schutz des Aktienrechts, das Firmengründer von einer Privathaftung freistellte, waren im deutschen und im österreichisch-ungarischen Kaiserreich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sehr viele neue Investmentbanken gegründet worden, die Einlagen einsammelten, um Wertpapiere zu erwerben. Der auch daraus resultierende Börsenaufschwung erwies sich letztlich als Wirtschaftsblase. Der Börsencrash am „Schwarzen Freitag“ des 9. Mai und eine Konkurswelle ungeahnten Ausmaßes waren die Folge.
Die Parallelen zur heutigen Krise sind natürlich begrenzt, denn die Geschichte wiederholt sich bekanntlich niemals exakt. In der Tat wurde die neue Bankenkrise nicht nur durch eine irrationale Übertreibung der Märkte erzeugt, sondern auch durch vorhersehbare Konsequenzen einer Bewertungsblase, die in Folge der Null- und Negativzinspolitik der Zentralbanken entstanden war.
Die beispiellose Geldmengenausweitung, die die Zentralbanken durch den Kauf von Staatspapieren hervorriefen, hatte für gut ein Jahrzehnt traumhafte Wertzuwächse bei bereits am Markt befindlichen älteren Staatspapieren und auch bei Aktien erzeugt. Diese Wertzuwächse lockten immer mehr Investoren an. Im Gefolge der Pandemie und einer ausufernden Staatsverschuldung entstand dann eine sehr starke Inflation, der die Notenbanken mit einer drastischen Zinswende die Kraft nehmen wollen. Die zuvor aufgeblasenen Marktwerte langfristiger Wertpapiere kollabierten daraufhin. Das brach der Silicon Valley Bank und wenige Tage später der Credit Suisse, einer der größten Banken der Welt, das Genick.
In den USA wie seinerzeit auch in Deutschland trug die Bewertung von Anlagen zu Marktwerten (Mark-to-Market- oder Fair-Value-Prinzip) zur Überhitzung und zur Blasenbildung bei. Diese Bewertungsmethode machte die Bilanzen volatil. Im Aufschwung entstehen Wertzuwächse auf die Anlagen der Firmen, die rechnerisch das Anwachsen von Eigenkapital suggerieren. Der anwachsende bilanzielle Eigenkapital-bestand gaukelt eine zunehmende Bonität der Firmen vor, die sie in die Lage versetzt, Einlagen und Kredite aufzunehmen, um damit Dividenden zu bezahlen. Im Umfang der Dividenden fehlt freilich Eigenkapital, wenn die Blase platzt und die Werte der Anlagen wieder auf das Normalniveau zurückkehren. Das Auf und Ab der Kurse führt systematisch zur Aushöhlung der Firmen und erhöht so die Konkursgefahr.
Im Verein mit der Haftungsbeschränkung der Aktiengesellschaften veranlasst das Prinzip die Firmen der Finanzwirtschaft zudem, übermäßig riskante Geschäftsmodelle zu wagen. Wenn sich die erhofften Gewinne einstellen, werden sie an die Aktionäre ausgeschüttet. Und wenn die Blase platzt, verliert man im schlimmsten Fall nur das bisschen Eigenkapital, mit dem man dank einer laschen Regulierung operieren durfte.
Heute hofft man mit gutem Recht zudem, vor dem Konkurs durch staatliche Bail-out-Aktionen gerettet zu werden. Aus der Privatisierung der Gewinne beim Aufbau der Blase und der Sozialisierung oder zumindest Verlagerung der Verluste auf Dritte bei deren Platzen entsteht über die Zeit hinweg ein betriebswirtschaftlicher Gewinn auch dann, wenn ein echter ökonomischer Gewinn gar nicht erzielt wurde.
Deutschland hatte im Jahr 1874 auf den durch die Mark-to-Market-Methode erzeugten Kasino-Kapitalismus re-agiert, indem es das Niederst-wertprinzip in sein Bilanzrecht einführte. Nach diesem Prinzip sind die Firmen verpflichtet, immer den niedrigsten möglichen Wertansatz für ihre Aktiva zu wählen. Das hat dazu geführt, dass die Firmen nach einem Aufschwung stille Reserven in ihren Bilanzen aufwiesen, mit denen die Verluste im Abschwung abgefedert werden konnten. Es hat dem deutschen Bankwesen grundsätzlich ein hohes Maß an Stabilität verschafft.
Angesichts der neuen Gründerkrise ist es ratsam, die an Marktwerten orientierte Bewertungsmethode durch das Niederstwertprinzip zu ersetzen. Zugleich könnten Maßnahmen zur Stärkung des Eigenkapitals ergriffen werden. Dabei ist zu erwägen, die regulatorischen Mindestquoten für das Eigenkapital statt auf die Summe der risikogewichteten Aktiva auf die einfache Bilanzsumme zu beziehen. Die risikogewichteten Aktiva sind in aller Regel nur ein Bruchteil der wirklichen Bilanzsumme, denn viele Anlagen werden nur sehr unzureichend erfasst. So werden Staatspapiere nicht mitgerechnet, obwohl sie sich in der jetzigen Krise als besonders anfällig für Zinsänderungsrisiken erwiesen haben. Dem Kasino-Kapitalismus würde damit der Boden entzogen.
Finanzkrisen würden durch solche Reformen unwahrscheinlicher, und die Staaten würden sich weniger häufig zu teuren Bail-out-Aktionen veranlasst sehen. Die wirtschaftliche Entwicklung verliefe glatter und nachhaltiger. Den Verteidigern der Marktwirtschaft fiele es leichter, deren Kritiker von den Segnungen dieser Wirtschaftsform zu überzeugen.
Zum Autor
Hans-Werner Sinn, Professor für Nationalökonomie und Finanzwissenschaft an der Universität München, war lange Jahre Präsident des Ifo Instituts für Wirtschaftsforschung und Berater des deutschen Wirtschaftsministeriums. Sein jüngstes Buch hat den Titel „Gefangen im Euro“. Copyright: Project Syndicate, 2023