München – Am Mittwoch kletterte der Dax auf eine neues Rekordhoch: 16 336 Punkte erreichte der deutsche Leitindex. Gestern ging der deutsche Leitindex mit 16 289 Punkten aus dem Handel – kaum mehr als am Vortag. Die Europäische Zentralbank (EZB) hatte am Nachmittag den Leitzins um 0,25 Prozentpunkte angehoben (siehe Kasten). Am Tag zuvor hatte die US-Notenbank Fed eine Pause bei den Zinsanstiegen bekannt gegeben. Trotz der Gemengelage ist die Rekordjagd des Dax berechtigt, meint Jörg Krämer, Chefvolkswirt der Commerzbank in Frankfurt. Dass es bis zum Jahresende weiter in hohem Tempo aufwärtsgeht, bezweifelt der Ökonom aber.
Die US-Notenbank Fed hat nach zehn Zinsschritten in Folge die Bremse eingelegt, auch die EZB geht vom Gas, sie hat dem Leitzins nur noch 0,25 Prozentpunkte erhöht. Sind das gute Nachrichten für Anleger?
Die amerikanische Notenbank hat, wie von den meisten erwartet, ihren Zins nicht weiter angehoben. Aber: Die Mitglieder des US-Zentralbankrates machen eigene Prognosen. Basierend auf ihren Einschätzungen zu Inflation, Konjunktur und anderen Faktoren prognostizieren sie ihren eigenen Leitzins.
Und womit rechnen die Fed-Mitglieder?
Die Prognosen zeigen, dass die Fed-Oberen im Schnitt noch mit zwei weiteren Zinsanhebungen bis zum Jahresende rechnen – das war eine Überraschung.
Was heißt das für Anleger?
Dass das Risiko gestiegen ist, dass die Fed bereits Ende Juli wieder die Zinsen erhöht – trotz der Zinspause jetzt. Daher haben die US-Börsen unmittelbar nach der Entscheidung negativ reagiert, aber die Verluste danach wieder aufgeholt.
Warum?
Auch wenn noch ein weiterer Zinsschritt folgen sollte – die Anleger sehen, dass sich der Zinserhöhungsprozess in den USA dem Ende nähert. Damit fällt früher oder später ein großer Belastungsfaktor für Aktien weg.
An den Börsen geht es steil nach oben, in Deutschland hat der Dax seit Jahresbeginn um fast 17 Prozent zugelegt und einen neuen Rekord erreicht. Im Nasdaq gibt es noch stärkere Zuwächse. Ist das nicht erstaunlich angesicht der weltweiten Krisen wie etwa dem Ukraine-Krieg?
Der Dax-Anstieg von fast 17 Prozent ist in der Tat rasant. Aber dafür gibt es mehrere Erklärungen. Eine ganz wichtige: Zu Jahresanfang hat er Dax davon profitiert, dass der Gaspreis wieder gesunken ist und eine vorher drohende Gasmangellage vom Tisch war. Außerdem hat sich die chinesische Wirtschaft nach dem Ende der rigiden Null-Corona-Politik kräftig erholt. Das alles hat dazu beigetragen, dass die Dax-Unternehmen mehr verdient haben, als noch im Herbst erwartet worden war.
Trotzdem melden sich schon die ersten Skeptiker und warnen angesichts des Rekord-Hochs vor einer Blasenbildung.
Der hohe Dax-Stand ist weitgehend durch die Unternehmensgewinne gedeckt. Eine Blase ist das nicht.
Woher nehmen Sie diese Gewissheit?
Nehmen wir zum Beispiel das Kurs-Gewinn-Verhältnis: Man teilt die aktuellen Börsenkurse durch die erwarteten Unternehmensgewinne für dieses Jahr. Schaut man sich das Ergebnis dieser Rechnung an, stellt man fest, dass das Kurs-Gewinn-Verhältnis mit einem Wert von rund elf völlig normal ist, es liegt sogar leicht unter den langjährigen Durchschnittswerten. Natürlich kann man sich die Frage stellen, ob die Analysten für dieses Jahr nicht zu hohe Unternehmensgewinne erwarten. Denn nach all den Zinserhöhungen könnte die deutsche Wirtschaft in der zweiten Jahreshälfte etwas schrumpfen. Das würde die Gewinne schmälern – und könnte an der Börse zu Rücksetzern führen. Diese Sorge ist berechtigt, mit einer Blase hat das aber nichts zu tun.
Was spricht dafür, dass es doch noch weiter aufwärtsgeht?
Die Profi-Anleger sind schon seit einiger Zeit eher pessimistisch, sie haben ihren Aktienanteil bereits zurückgefahren. Sie haben also schon verkauft. Das heißt: Selbst wenn es im zweiten Halbjahr zur Rezession käme, würde wohl nicht im großen Stil verkauft, die Verluste am Aktienmarkt dürften sich daher in Grenzen halten.
Und entziehen nicht auch die Zinserhöhungen dem Aktienmarkt Kapital, sodass es zu Rückschlägen kommen könnte?
Zinserhöhungen haben typischerweise Auswirkungen auf die Konjunktur. Höhere Zinsen bremsen das Wachstum – und damit die Unternehmensgewinne, was zu Korrekturen am Aktienmarkt führen könnte.
Wie geht es bei den Zinsen weiter?
Die Inflationswelle, die von der teuren Energie ausging, ebbt seit Herbst ab. Die von teuren Nahrungsmitteln und Lieferengpässen ausgelösten Inflationswellen laufen seit ein paar Monaten ebenfalls aus. Daher dürfte die Inflation in den kommenden Monaten weiter zurückgehen. Das ist ein starkes Argument dafür, dass die EZB ihre Zinsen nach dem für Juli angekündigten Zinsschritt nicht weiter erhöht – für die Aktienmärkte sind das gute Nachrichten.
Wo sehen Sie den Dax zum Jahresende?
Ich sehe ihn etwa da, wo er jetzt auch ist. Zwischenzeitlich kann es natürlich zu Rücksetzern kommen – vor allem wegen der Konjunktursorgen.
Aber 2023 könnte ein Rekordjahr werden?
In Rekordjahren hat der Dax auch mal um 30 bis 40 Prozent zugelegt. Das dürfte er dieses Jahr nicht schaffen.
Interview: Sebastian Hölzle