München – Eines ist gewiss; „Windkraft wird für die Energiewende gebraucht“, betonte gestern Christian Bruch. Die Frage ist, ob der Energietechnikkonzern Siemens Energy, dessen Vorstandsvorsitzender Bruch ist, dabei noch lange eine Rolle spielen wird. Die Hiobsbotschaft, die der Manager gestern verkündete, kommt einer Bankrotterklärung gleich.
Das für die Zukunft stehende Windkraftgeschäft liefert neue Fundamentalprobleme, die weitere Sanierungskosten von minimal einer Milliarde Euro verursachen. Wie viel es am Ende wirklich wird, konnten gestern weder Bruch noch Windkraftsanierer Jochen Eickholt sagen. Was sie sagen, lässt alle Alarmglocken schrillen.
„Das heutige Ausmaß von Problemen hätte ich nicht erwartet“, gesteht Eickholt. Es sei schlimmer als alles, was er in seiner langjährigen Karriere bislang erlebt habe. Bruch wiederholt das in ähnlichen Worten. Gleich drei teils gravierende Problemfelder wurden entdeckt, die alle bisherigen Geschäftsprognosen für das laufende und vermutlich auch Folgejahre zur Makulatur werden lassen.
Am schwerwiegendsten sind „deutlich erhöhte Ausfallraten bei Windturbinen-Komponenten“, sagte Eickholt. „Es ist nicht auszuschließen, dass Designprobleme dahinterstecken.“ Übersetzt heißt das: Es könnte ein Konstruktionsfehler sein. Betroffen seien Rotorblätter wie Lager und damit Kernkomponenten von Windkraftanlagen an Land, sagte Eickholt. Anormales Schwingungsverhalten habe man festgestellt.
Bei Siemens hatte Eickholt einst als Feuerwehrmann erfolgreich das Eisenbahngeschäft saniert. Jetzt ist er seit mittlerweile über einem Jahr dabei, sich an der Windkraft die Zähne auszubeißen. Die dafür verantwortliche spanische Tochter Siemens Gamesa, die lange nur teilweise im Besitz von Siemens Energy war, haben die Bayern gerade mit Milliardenaufwand vollständig übernommen. Nun können sie frei schalten und walten. Personal wird abgebaut oder ausgetauscht. Von der Vergangenheit unbelastete Mitarbeiter haben nun die neuen Probleme entdeckt.
Aber es sind nicht nur Windkraftanlagen an Land betroffen. Zum einen hätten sich bislang Verbesserungen der Produktivität nicht wie geplant eingestellt, zum anderen gebe es Schwierigkeiten beim Hochlauf der Fertigungskapazitäten für Windkraftanlagen auf See, räumte Eickholt ein. Unter anderem finde man nicht ausreichend Personal. Was das in der Summe an finanziellen Belastungen bedeuten könnte, wollten Bruch und Eickholt nicht abschätzen.
Klar ist, dass eine Milliarde Euro das Minimum ist. Das Ziel, im laufenden Geschäftsjahr 2022/23 weniger Verlust als die 647 Millionen Euro des Vorjahrs einzufahren, hat Siemens Energy kassiert. Es war gestern die sechste und wohl fundamentalste Gewinnwarnung binnen 18 Monaten. Erst im Januar war eine unerwartete Gewinnbelastung von einer halben Milliarde Euro verkündet worden.
An der Börse fand das Echo. Um über ein Drittel brach die Aktie von Siemens Energy als Reaktion auf das neue Debakel zeitweise ein (siehe Grafik). Sie notierte zeitweise unter 16 Euro. Vom bisherigen Ziel, 2023/24 endlich die Gewinnzone zu erreichen, kann sich die Siemens-Abspaltung wohl verabschieden.
Es werde „viele Jahre“ dauern, die nun neu entdeckten Probleme abzuarbeiten, räumte Bruch ein. Wie lange, traute er sich nicht einmal grob abzuschätzen. „Es war ein Jahr mit einem perfekten Sturm“, hatte Bruch das schon hochdefizitäre vorige Geschäftsjahr kommentiert. Nun fegt ein Orkan durch seinen Konzern. Was Siemens Energy noch einigermaßen aufrecht hält, ist das Geschäft mit Übertragungsnetzen und Gaskraftwerken. Letzteres gilt als Brückentechnologie und Auslaufmodell.
Auch die Zukunft von Bruch selbst steht nun infrage, was aber das geringste Problem von Siemens Energy sein dürfte. Über sein Schicksal müssten andere entscheiden, sagte Bruch mit Blick auf den Aufsichtsrat. Den führt der frühere Siemens-Chef Joe Kaeser, der auch die Abspaltung des Energiegeschäfts vom Mutterkonzern im September 2020 zu verantworten hat. Ein Drittel hält die Münchner Siemens AG noch an Siemens Energy. Eine Trennung schien zuletzt kurz bevorzustehen. Auch das ist nun Makulatur. Das neuerliche Fiasko trifft damit auch den Siemens-Konzern.