München – Es ist der Verhandlungstag, an dem der Wirecard-Skandal umgeschrieben werden soll. „Gleich erfahren Sie, wie es wirklich war“, sagt Rechtsanwalt Alfred Dierlamm. Mit diesen Worten betritt er den Gerichtssaal in München, in dem seit Ende 2022 gegen seinen Mandanten Markus Braun als Kopf einer Betrügerbande verhandelt wird. Einen großen Beweisantrag hat der Strafverteidiger angekündigt. Er soll die Unschuld Brauns beweisen und die wahren Täter entlarven. Die 26-seitige Zusammenfassung trägt Dierlamm über mehrere Stunden vor.
Insgesamt 1500 Seiten dick ist der Packen, den er dem Gericht unter Richter Markus Födisch übergibt. Wenn es wahr ist, was darin steht, zeichnet Brauns Verteidiger in der Tat eine neue Geschichte des Wirecard-Skandals. Die geht so: Wirecard war keine in weiten Teilen nur erfundene Firma. „Es gab das Geschäft, es gab die Milliarden“, glaubt Dierlamm beweisen zu können. Aber die Gelder wurden am einstigen Dax-Konzern vorbei auf kriminelle Weise in davon unabhängige Schattengesellschaften gelenkt. Veruntreut wurden dabei insgesamt mindestens zwei Milliarden Euro.
Um das beweisen zu können, hat Dierlamm und sein Team bergeweise Kontoauszüge und E-Mails ausgewertet, die von Gericht und Staatsanwaltschaft bislang sträflich ignoriert worden seien. Am Ende sei man mit den eigenen Ermittlungen bei Weitem noch nicht, stellt der Anwalt klar. Von über einer halben Million E-Mails habe man zum Beispiel erst ein Fünftel auswerten können.
Am aufschlussreichsten seien dabei die des Mitangeklagten Oliver Bellenhaus, der im Prozess auch als Kronzeuge fungiert und eine ganz andere, zur Anklage der Staatsanwalt passende Realität beschreibt. Klar sei beim Aufdecken des Wirecard-Skandals in Eigenregie eines geworden. „Es gibt keinen Hinweis, dass Herr Braun eingeweiht war“, betont Dierlamm. An keiner der anrüchigen E-Mail-Korrespondenzen sei sein Mandant beteiligt gewesen. Alles sei vor ihm und anderen Vorständen geheimgehalten worden – mit einer Ausnahme. Das war der flüchtige Ex-Vorstand Jan Marsalek, der in Dierlamms Version in Wahrheit der wahre Kopf einer Verbrecherbande gewesen ist. Assistiert habe ihm Kronzeuge Bellenhaus, der Staatsanwaltschaft und Gericht mit Lügen bislang erfolgreich aufs Glatteis geführt habe. Ein paar Schönheitsfehler hat die spektakulär klingende Neuschreibung des Wirecard-Skandals aber. Beim Durchforsten des E-Mail-Verkehrs sei man auf „erschwerte Umstände“ gestoßen, sagt Dierlamm. Die mutmaßlich auf Verabredung schwerer Straftaten zielende Kommunikation zwischen Marsalek, Bellenhaus und Kumpanen breche leider stets an der Stelle ab, wo man beginnt, über sensible Inhalte zu sprechen. „Lass uns auf Telegram wechseln“, zitiert Dierlamm eine E-Mail. Wie es auf dem Messengerdienst dann weiterging, ist nirgendwo dokumentiert. Aber man könne sich denken, was da besprochen wurde.
Denken kann man sich in der Tat vieles. Nach zwingendem Tatsachenbeweis, wie von Dierlamm angekündigt, klingt das weniger. Was aber war mit den angeblichen Wirecard-Treuhandkonten, auf denen am Ende 1,9 Milliarden Euro hätten liegen sollen, aber es nicht taten? Auch dafür hat Dierlamm eine Erklärung. Um ihre Betrügereien nicht nur vor Aktionären und der Öffentlichkeit, sondern auch vor Braun zu vertuschen, habe die Bande um Marsalek und Bellenhaus nicht nur die Existenz der Treuhandmilliarden, sondern auch dahinter stehender Geschäfte trickreich erfunden.
Mehrere hundert Einzelbeweisanträge hat Dierlamm an das Gericht gestellt, um all das zu verifizieren. Geht das Gericht allem nach, dürfte das den Prozess um viele Monate verlängern. Sollten sich diese Beweise am Ende als stichhaltig erweisen, wäre der Wirecard-Skandal in der Tat ein anderer.