Siemens: Erlangen ist neues Digitalzentrum

von Redaktion

VON SEBASTIAN HÖLZLE

München – Wenn Siemens-Chef Roland Busch vom „industriellen Metaverse“ spricht, ist das erklärungsbedürftig. Dabei verbirgt sich dahinter klassisches Siemens-Geschäft. Siemens entwickelt seit Jahrzehnten Technologien für andere Unternehmen, damit diese effizienter produzieren können. In den vergangenen Jahren gelang dies dank Digitalisierung und Automatisierung. Und offenbar rollt diese Digitalisierungswelle weiter.

Konkret stellt sich Busch das „industrielle Metaverse“ so vor: Ein digitaler Raum, in dem Einzelpersonen und Unternehmen mit Digitalen Zwillingen von Maschinen, Produkten, Fabriken, Gebäuden, Städten, Netzen und Transportsystemen arbeiten und interagieren können.

Digitale Räume also. Das erinnert an das Metaverse-Programm von Facebook-Chef Mark Zuckerberg. Im Metaverse sollen sich Menschen rund um den Globus – ausgestattet mit 3D-Brille, Kopfhörer und anderer Hardware – virtuell treffen können.

Selbsterklärend ist, dass sich die Siemens-Kundschaft nicht zum digitalen Stammtisch oder virtuellen Kaffeeklatsch treffen soll. Sie sollen mit den Digitalen Zwillingen arbeiten – noch so ein erklärungsbedürftiger Begriff. Dabei sind Digitale Zwillinge in der Industrie längst Alltag. Ein Beispiel: Siemens baut in München Vectron-Lokomotiven und verkauft die Loks in ganz Europa, etwa an Güterzugbetreiber. Der Kunde entscheidet, welcher Motor oder welcher Transformator eingebaut wird, abhängig vom europäischen Bahnstromsystem, das die Lok unterstützen soll.

Ist die Lok an den Kunden übergeben, bleibt im Siemens-Werk Allach ein gigantischer Datenberg zurück: Ein 3D-Modell der Lokomotive mit allen technischen Details, der Digitale Zwilling. Ist die Lok in Betrieb, sendet sie von der Schiene permanent Daten – der digitale Zwilling altert mit. Muss ein Verschleißteil getauscht werden oder will der Bahnbetreiber einen neuen Motor mit mehr PS, können Siemens-Ingenieure per 3D-Brille am Digitalen Zwilling den Eingriff planen – noch bevor die Lok zurück ins Werk gerollt ist. Das Spart Zeit und Geld.

Digitale Zwillinge kommen nicht nur in den Sparten des Siemens-Konzerns zum Einsatz, sie sind weltweit in der Industrie verbreitet. Nicht nur Produkte, ganze Fertigungsstraßen existieren als Klon in Form von Nullen und Einsen.

Gelingt es Busch, dieses bestehende Geschäft weiterzuentwickeln, könnten Siemens-Kunden im Metaversum ihren gesamten Fertigungsprozess digital duplizieren. Die Hoffnung: Sinkende Entwicklungskosten, schnellere Produktion. Und Siemens selbst hätte einen Wettbewerbsvorteil im Rennen um die globale Technologieführerschaft.

Siemens-Chef Busch ist offenbar bereit, für seine Vision eine Menge Geld auszugeben. „Wir investieren eine Milliarde Euro in Deutschland, davon eine halbe Milliarde Euro hier in Erlangen in einen neuen Campus“, sagte Busch gestern l Erlangen. „Heute legen wir hier den Grundstein für das industrielle Metaverse. Wir revolutionieren die Art, wie wir produzieren.“

Der größte Anteil der Investition gehe in Forschung und Hightech-Entwicklung. Außerdem soll das Elektronikwerk in Erlangen, in dem Umrichter und Steuerungen für Werkzeugmaschinen gebaut werden, erneuert werden, sagte Busch. „Die Umbauten werden erfolgen, während das Werk weiterläuft.“ Die Frage, wie das gehen soll, beantwortete Busch gleich selbst: „Mithilfe einer Simulation im Metaverse.“

Der Manager wies darauf hin, dass in Deutschland Energie teuer und Steuern sowie Löhne hoch seien. Es gebe „viel zu viel“ Bürokratie und eine bröckelnde Infrastruktur. Viele Unternehmen investierten derzeit lieber im Ausland. „Siemens investiert in Deutschland“, betonte Busch und begründete das damit, dass es in Deutschland „erfolgreiche Ökosysteme“ gebe, etwa die Auto-, Chemie- und Pharmaindustrie sowie der „sehr starke“ Mittelstand.

Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) und Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU), die eigens nach Erlangen gereist waren, zeigten sich über das Bekenntnis zum Standort erfreut. Denn sollte Busch mit seinem „industriellen Metaverse“ Erfolg haben, dürfte die gesamte Region in Franken davon profitieren. Und Roland Busch selbst wäre etwas gelungen, woran Mark Zuckerberg bislang gescheitert ist – das Facebook-Metaverse droht zu einem Flop zu werden.

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