München – Es wird schnell turbulent an diesem Morgen im Gerichtssaal der Justizvollzugsanstalt Stadelheim in München. Strafverteidiger schreien durcheinander, auch Richter Markus Födisch wird laut. Eine Staatsanwältin versucht, sich Gehör zu verschaffen. Für Zündstoff sorgt ein achtseitiger Brief. Verfasst hat ihn Anwalt Frank Eckstein im Auftrag seines Mandanten Jan Marsalek. Dieser war mal Wirecard-Vorstand und ist im Laufe des Prozesses immer mehr zum mutmaßlichen Haupttäter eines Milliardenbetrugs geworden.
Offiziell bekannt ist vom Inhalt des Briefes nur wenig. Manche, die ihn gelesen haben, tun ihn als weitgehend belanglos ab, andere sehen den Brief als einen Wendepunkt des Prozesses.
„Wir stellen Antrag auf Verlesung des Briefes“, sagte Rechtsanwalt Alfred Dierlamm gestern in einer Verhandlungspause. Er vertritt mit dem ehemaligen Wirecard-Chef Markus Braun den wichtigsten von drei Angeklagten. Denn für seinen Mandanten, der als Chef einer Betrügerbande auf der Anklagebank sitzt, enthält er mutmaßlich Entlastendes.
Zugegangen ist der Brief vorige Woche dem Gericht und der Staatsanwaltschaft, einige Tage später auch den Verteidigern der drei Angeklagten. Zu ihnen zählt neben dem Ex-Chefbuchhalter Stefan E. auch Oliver Bellenhaus. Der war Statthalter des Konzerns in Dubai und fungiert im Prozess auch als Kronzeuge.
Aus dem, was die Verteidiger zum Brief sagen, ergibt sich folgendes Bild: Erstens sagt Bellenhaus nicht die Wahrheit. Zweitens hat es das Drittpartnergeschäft (TPA) wirklich gegeben. Es ist jener undurchsichtige Teil von Wirecard, der kurz vor dem Kollaps des Konzerns große Teile des gesamten Umsatzes und den kompletten Gewinn beigesteuert haben sollen. Zumindest war das in den Wirecard-Bilanzen so dargestellt.
Ab hier gibt es zwei Wahrheiten. Staatsanwälte, aber auch der Wirecard-Insolvenzverwalter Michael Jaffé sagen, das asiatische TPA-Geschäft hat es nie gegeben. Es sei vorgetäuscht und Teil eines riesigen Schwindels gewesen, den Braun mit seinen Komplizen inszeniert hat. Auch 1,9 Milliarden Euro Treuhandguthaben aus dem TPA-Geschäft hätten nie existiert.
Eine alternative Wahrheit zeichnen Braun und dessen Verteidiger. Demnach hat es sowohl das TPA-Geschäft als auch die Treuhandmilliarden gegeben. Das Geld sei aber von einer Bande um Marsalek und Bellenhaus geraubt worden und zwar ohne, dass Braun davon wusste. Der Hauptangeklagte sei damit nicht Täter, sondern Opfer.
In diese Situation platzt der Brief von Marsaleks Anwalt. Eigene Schuld gesteht der Ex-Vorstand darin nicht ein, sagen alle, die den Brief gelesen haben. Als Anlass des Schreibens wird darin der bisherige Prozessverlauf und ein jüngster Sachstandsbericht von Jaffé genannt. Der Insolvenzverwalter betont darin, beweisen zu können, dass es die Treuhandmilliarden nie gegeben hat, weshalb sie auch nicht hätten geraubt werden konnten. Dem tritt Marsalek in seiner ersten Wortmeldung nach drei Jahren Schweigen entgegen. Belege dazu liefert er nicht, sagen Leser des Briefs übereinstimmend.
Nico Werning, einer der Anwälte Brauns, liest am Nachmittag einige Passagen vor. Marsalek wirft darin Bellenhaus vor, sich der Staatsanwaltschaft als „anpassungsfähiger Zeuge“ angedient zu haben, um sich später „in Freiheit mit von ihm veruntreuten Firmengeldern in Millionenhöhe als geläuterter Büßer nach Dubai zurückziehen zu können“.
„Die Lügen von Bellenhaus werden ganz konkret beschrieben“, betont Braun-Verteidiger Dierlamm. Richter Födisch und Staatsanwältin Inga Lemmers sehen das anders. „Einen krassen Gegensatz zu den Einlassungen von Herrn Bellenhaus kann ich schon mal gar nicht erkennen“, sagt Födisch im Zuge eines Wortgefechts mit Dierlamm. „Vor harten Fakten strotzt das Scheiben nicht“, findet Lemmers. Zudem sei Marsalek ein international gesuchter Verbrecher. Als der Richter sagt, er sehe kaum eine Möglichkeit, das Schreiben ins Verfahren einzuführen, als Beweismittel zuzulassen, explodiert Dierlamm.
„Wollen Sie das im Schreibtisch verschwinden lassen?“, tobt der Verteidiger. Ein hitziger Disput zwischen Verteidiger und Richter folgt, in den sich noch andere Prozessbeteiligte einschalten. Für ein paar Augenblicke ist man als Beobachter froh, dass zwischen allen Beteiligten Tischreihen liegen, die Handgreiflichkeiten erschweren.