Deutsche Firmen in Ungarn schlagen Alarm

von Redaktion

VON AMY WALKER

Berlin – Immer mehr ausländische Unternehmen in Ungarn berichten von einem politischen System, das auf ihre Enteignung abzielt. Es ist die Rede von hohen Sondersteuern, die nur ausländische Unternehmen treffen; von Blockaden, die sie vom Wachstum abhalten; von Dekreten, die Preise festsetzen; und von Staatsanwälten, die unversehens Hausdurchsuchungen bei Mitarbeitern ausländischer Firmen anordnen. All das passiert in der Europäischen Union – die fast tatenlos zusieht.

Die betroffenen Firmen gehören verschiedensten Branchen an: Baustoffindustrie, Energiewirtschaft, Telekommunikation, Lebensmittelhandel, Transport. Die meisten wollen nur unter der Bedingung sprechen, dass ihr Name anschließend nicht genannt wird. Viele weitere lehnten eine Stellungnahme vollständig ab – aus Angst vor Vergeltungsmaßnahmen der ungarischen Regierung. Die Geschichten, die die Firmen erzählen, ähneln sich in vielen Punkten. Viele von ihnen haben bereits nach dem Zerfall der Sowjetunion den Sprung nach Ungarn gewagt. Sie haben investiert, von niedrigen Steuern und günstigen Arbeitskräften profitiert – und im Gegenzug viele Arbeitsplätze geschaffen. Deutschland ist so für Ungarn zu einem sehr wichtigen Wirtschaftspartner geworden. Mit dem Aufstieg des heutigen Ministerpräsidenten Victor Orbán ab 2010 änderte sich daran zunächst wenig. Zwar beobachteten auch die Firmen einen Wandel: Medien wurden von Oligarchen aufgekauft und pseudo-verstaatlicht, die Justiz ausgehebelt, Orbáns Freunde und Familie in wichtige Positionen gehievt. Für ausländische Investoren blieb das Land aber grundsätzlich attraktiv.

Der Bruch geschah im Jahr 2021, ein Jahr nach Beginn der Corona-Pandemie. Diese nutzte Orbán für einen Trick: das Regieren durch Notstandsverordnungen per Dekret. Die Regierung kann den Notstand ohne Zustimmung des Parlaments verlängern und tut das. Seither wird es auch für Firmen in Ungarn eng. Auch Orbán selbst kündigte es öffentlich an: Die Wirtschaft müsse in ungarische Hände gelangen. Es sollten „nationale Champions“ geschaffen werden. Der Anteil ausländischer Unternehmen solle reduziert werden.

Das bringt auch deutsche Dax-Konzerne in die Bredouille: Die Firma Heidelberg Materials hat bereits in den 1990er-Jahren damit begonnen, in Ungarn Zement zu verkaufen. 2022 erhielt der Dax-Konzern ein Übernahmeangebot, das er ablehnte. Im Gegenzug wurde gegen Heidelcement eine 90-prozentige Bergbauabgabe verhängt. Jetzt schreibt die ungarsiche Tochter Verluste. Auch die Preise für Zementprodukte werden mittlerweile quasi vom Staat vorgegeben. Wie lange das Unternehmen das noch durchhält, ist offen. „Wir sind aber bereit zu kämpfen“, sagt ein Firmen-Manager.

Auch das Energieunternehmen Eon fühlt sich in Ungarn nicht mehr willkommen. Im Mai 2023 sprach der Geschäftsführer von Eon Hungaria, Guntram Würzberg, mit dem ungarischen Portal „Portfolio“. Man sei bereit, eine Milliarde Euro in die Modernisierung der ungarischen Infrastruktur zu investieren, sagte er. Vorausgesetzt, es gebe „vernünftige und faire Investitionsbedingungen“. Das ist keine Selbstverständlichkeit mehr. So wurde Eon 2022 per Dekret dazu verpflichtet, das angeschlagenen Stahlunternehmen Dunaferr mit Strom zu beliefern – „im Grunde unentgeltlich“, sagt Würzberg. Für Eon bedeute das Verluste im Wert von zehn Prozent des Jahresumsatzes. Gespräche über eine mögliche Kompensation laufen den Angaben zufolge bisher ins Nichts.

Weitere Unternehmen, die anonym bleiben möchten, haben ähnliche Erfahrungen gemacht. Erst kam das „Übernahmeangebot“, das sie ablehnten, dann begann die Drangsalierung. Durch Notstandsdekrete werden sie vom Wachstum abgehalten. Von einigen Firmen ist bekannt, dass die Staatsanwaltschaft Büroräume und private Räume durchsuchen ließ.

Auch der Ostausschuss der Deutschen Wirtschaft sieht die Entwicklung mit wachsender Sorge. Immer mehr Unternehmen und Branchen seien betroffen, heißt es. Durch die Maßnahmen der ungarischen Regierung sei die Investitionssicherheit in Ungarn für deutsche, aber auch für österreichische oder französische Firmen gefährdet, erklärt ein Verantwortlicher gegenüber unserer Zeitung. „Viele Unternehmen stellen sich in Ungarn inzwischen die Frage: Bin ich in Ungarn erwünscht? Wenn ja, wie lange noch?“ Eine Lösung ist nicht in Sicht.

Den größten Hebel gegen die ungarische Regierung hätte die EU. Doch die Gegenwehr kommt zögerlich: EU-Gelder werden teils eingefroren, es laufen Vertragsverletzungsverfahren. In einer Resolution des EU-Parlaments vom Juni heißt es: „Das Parlament ist entsetzt über Berichte von Einschüchterungsversuchen, wie solche, dass die Geheimpolizei die Firmensitze mancher Unternehmen besucht sowie andere Methoden, die darauf abzielen, Druck auszuüben.“ Weiter schreibt das Parlament, dass es „mit Sorge feststellt, dass eine wachsende Zahl an Unternehmen in die Hände von ungarischen Oligarchen fällt“. Das Thema ist also bekannt. Die Frage ist nur: Wie groß ist der Schaden für ausländische Firmen in Ungarn, bis die EU endlich richtig durchgreift?

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