„Wir brauchen Master und Meister“

von Redaktion

INTERVIEW Warum es so viele junge Leute ohne Ausbildung bei so viel offenen Lehrstellen gibt

Die dualen Ausbildungsberufe leiden unter einem Bewerbermangel – auch weil immer mehr junge Leute studieren wollen. Der Präsident den Bundesinstituts für Berufliche Bildung (BIPP), Hubert Esser, plädiert für ein neues Gleichgewicht beider Ausbildungswege. Der gelernte Bäcker, Jahrgang 1959, leitet das Institut seit 2011.

Ihr jüngster Bildungsbericht enthält eine dramatisch klingende Zahl: 2,6 Millionen junge Leute unter 34 Jahren haben keine Ausbildung. Es werden anscheinend immer mehr. Was läuft da schief?

Ja, die Zahl der jungen Menschen, die sich weder in Schule noch in Beschäftigung, Ausbildung oder Studium befinden, ist zuletzt wieder gestiegen. Diese Entwicklung ist alarmierend, und diesen Trend gilt es, so schnell wie möglich wieder umzukehren. Wir müssen an diese Jugendlichen und jungen Erwachsenen näher ran und verlässliche Beziehungen zu ihnen aufbauen, um sie bei ihrem individuellen Weg in Ausbildung und Beruf besser unterstützen zu können.

Inwieweit erweisen sich heute die Kampagnen für das Abitur und ein anschließendes Studium im Nachhinein als Fehler?

Wir haben in den vergangenen Jahren das Gleichgewicht zwischen der akademischen und beruflichen Bildung ein wenig aus den Augen verloren. Ich halte es aber für einen Fehler, die akademische und die berufliche Bildung gegeneinander auszuspielen. Wir brauchen beides – Master und Meister. Der tiefgreifende Wandel von Wirtschaft und Gesellschaft durch die Herausforderungen der Digitalisierung, der demografischen Entwicklung sowie der Dekarbonisierung machen dies aktuell überdeutlich.

Was muss sich ändern, damit die duale Ausbildung wieder attraktiver wird?

Wir müssen ein gesamtgesellschaftliches Verständnis zur Gleichwertigkeit beruflicher und akademischer Bildung fördern und diese Gleichwertigkeit rechtlich verankern. Die berufliche Bildung muss zudem flexibler, inklusiver und exzellenter werden. Darüber hinaus sind die Bedingungen für eine qualifizierte Zuwanderung zu verbessern und die inländischen Potenziale besser zu nutzen.

Angesichts vieler unbesetzter Ausbildungsplätze bei gleichzeitig nicht versorgten Jugendlichen stellt sich die Frage, warum Angebot und Nachfrage hier nicht zusammenpassen? Ist die schulische Ausbildung zu schlecht geworden?

Die Zahl der unbesetzten Ausbildungsplätze ist zuletzt auf einen neuen Höchststand gestiegen. Das ist besorgniserregend und verschärft den Fachkräftemangel. Ein Ansatz ist, die Berufsorientierung an allen allgemeinbildenden Schulen, auch an Gymnasien, weiterzuentwickeln und sie erfahrbar zu machen. Dies kann zum Beispiel über Ausbildungsbotschafter an Schulen, digitale Formate wie Berufe-TV oder verstärkte Praktika in Betrieben geschehen.

Gerade benachteiligte Jugendliche brauchen eine intensive Betreuung auf dem Weg ins Berufsleben. Nun will der Arbeitsminister diese Gruppe von den damit erfahrenen Jobcentern hin zur Arbeitsagentur verschieben, um Geld zu sparen. Was halten Ihre Fachleute davon?

Letztlich ist die entscheidende Frage doch, wie man die Beratung und Begleitung der Jugendlichen organisiert. Eine verlässliche Beziehung aufzubauen, für die Jugendlichen ansprechbar zu sein, denen Unterstützung im sozialen Umfeld fehlt, erscheint mir wichtig. Beratung muss so ausgerichtet werden, dass sie die Entscheidungs- und Handlungskompetenz der Jugendlichen erhöht. Hierzu müssen alle Beteiligten zusammenarbeiten. Der rechtskreisübergreifenden Zusammenarbeit in den Jugendberufsagenturen kommt dabei eine entscheidende Bedeutung zu.

Interview: Wolfgang Mulke

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