München – Der Wirtschaftsweise Martin Werding sieht das wirtschaftliche Umfeld mit großer Sorge. Deutschland leide derzeit unter einer „besorgniserregenden Wachstumsschwäche, die im Kern auf knappe Produktionsfaktoren zurückgeht“, mahnte Werding im Interview. Dies gelte vor allem für fehlende Arbeitskräfte, aber auch für Kapital. „Das müssen wir dringend besser machen“, sagte das Mitglied im Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung. Mit Blick auf den geplanten Bürokratie-Abbau der Ampel forderte der Ökonom mehr Tempo und sieht auch Länder und Kommunen in der Pflicht. Die von der Bundesregierung auf der Kabinettsklausur beschlossenen Pläne könnten „nur ein erster Schritt sein“, sagte Werding. Unternehmen litten seit vielen Jahren unter dem Regelungswust. Nun werde aber immer sichtbarer, welche Bremseffekte dieser auf die Wirtschaft habe.
Herr Prof. Werding, das wirtschaftliche Umfeld in Deutschland trübt sich immer weiter ein. Was glauben Sie, hat der Bundeskanzler den Ernst der Lage erkannt?
Ich gehe davon aus, dass alle Koalitionspartner den Ernst der Lage voll erkannt haben. Bei der Diagnose herrscht also weitgehende Einigkeit, aber die Therapievorschläge sind unterschiedlich.
Um die Lage zu stabilisieren, will die Bundesregierung der Wirtschaft jetzt mit dem Wachstumschancengesetz unter die Arme greifen. Neben verbesserten Abschreibungsmöglichkeiten sind dabei unter anderem auch Erleichterungen bei der Nutzung von Verlustvorträgen vorgesehen. Was halten Sie von diesem Ansatz?
Die Ampel setzt mit Ansätzen wie beschleunigten Abschreibungen durchaus auf die richtigen Instrumente. Denn es geht bei den Vorschlägen vor allem darum, Investitionen anzukurbeln. Zudem werden dabei auch Forschung und Entwicklung gefördert, wenn auch im kleineren Rahmen. Deutschland leidet derzeit unter einer besorgniserregenden Wachstumsschwäche, die im Kern auf knappe Produktionsfaktoren zurückgeht. Bei Arbeitskräften ist das mit Händen zu greifen. Knapp ist aber auch Kapital – mit den entsprechenden Folgen für den technischen Fortschritt. Da ist die Dynamik in Deutschland extrem niedrig. Das müssen wir dringend besser machen.
Viele Ökonomen bezweifeln, dass die geplanten sieben Milliarden Euro Entlastung pro Jahr einen spürbaren Wachstumsimpuls auslösen können.
Wenn beim geplanten Volumen etwas mehr ginge, wäre das sicher gut. Aber es müssen keine hohen zweistelligen Milliardenbeträge sein. Dafür gibt es in der mittelfristigen Finanzplanung für die Jahre 2024 und 2025 im Übrigen wohl auch keine weiteren Spielräume. Und davon abgesehen haben wir im Sachverständigenrat mit Blick auf den Inflation Reduction Act in den USA ja gerade erst vor einem internationalen Subventionswettlauf gewarnt. Das sollte nicht der Ansatz sein.
Aber reicht das Volumen, um die deutsche Wirtschaft wieder auf Kurs zu bringen?
Klar ist: Wir sollten nicht in eine Spirale eintreten, wo wir dann übernächstes Jahr 20 und dann 30 oder noch mehr Milliarden pro Jahr für Subventionen in die Hand nehmen. Aber es geht ja nicht immer nur um mehr Geld. Auch Verlässlichkeit hilft. Wenn die Unternehmen sicher sein können, dass sich die Rahmenbedingungen für Investitionen in ein, zwei Jahren nicht wieder fundamental ändern, wäre schon viel gewonnen. Wenn man diese Dinge beherzigt, ist das im Zweifel billiger als die Investitionsbeträge massiv zu erhöhen.
Alleine für die Förderung von zwei neuen Halbleiter-Werken in Ostdeutschland hat der Bund gerade insgesamt 15 Milliarden Euro Subventionen lockergemacht. Fehlt es in der Ampel an Aufmerksamkeit für den Mittelstand?
Solche Großinvestitionen für die Ansiedlung von Fabriken sind natürlich immer noch Leuchtturmprojekte, wo man sich fragen kann: Ist das in der Höhe sinnvoll? Natürlich hätten 15 Milliarden mehr für beschleunigte Abschreibungen wahrscheinlich einen etwas größeren Hebel ermöglicht als zwei Chipwerke. Aber ordnungspolitische Sünden dieser Art hat es leider immer gegeben.
In Meseberg hat sich die Bundesregierung auch auf erste Schritte zum Bürokratieabbau geeinigt. Bringen Regelungen wie der Verzicht auf Meldepflichten für Bundesbürger in Hotels oder verkürzte Aufbewahrungspflichten für Steuerbelege wirklich den Befreiungsschlag?
Das kann nur ein erster Schritt sein. Gut ist, dass die Politik das Thema Bürokratie-Abbau jetzt überhaupt angeht. Unter dem Regelungswust leiden Unternehmen seit vielen, vielen Jahren. Aber welche Bremseffekte das hat, wird jetzt immer sichtbarer. Insofern scheint die Botschaft angekommen.
Besonders zu schaffen machen den Unternehmen hierzulande die im internationalen Vergleich hohen Strompreise. Die Industrie drängt auf die Einführung eines Industriestrompreises. Das lehnen der Bundeskanzler und Finanzminister Christian Lindner aber weiter ab. Richtig?
Ich bin froh, dass da nichts passiert ist. Aber die Frage schwelt weiter. Die SPD-Fraktion hat sich klar dafür ausgesprochen. Aber ich halte von dem Konzept eines Industriestrompreises nichts.
Warum?
Weil es nicht die Antwort auf die zentrale Frage liefert, wie wir die Energieeffizienz in der Produktion verbessern. Und dann stimmen bei den jetzigen Vorschlägen auch die Eckdaten noch nicht. Denn die ins Spiel gebrachten Werte von fünf oder sechs Cent je Kilowattstunde lägen immer noch deutlich über dem Strompreis-Niveau vor dem Ausbruch des Krieges in der Ukraine. Da waren es für industrielle Nutzer neun Cent. In dieser Größenordnung sähe ich gewisse Spielräume. Aber einen Preis unter den Einstandskosten sehe ich nicht. Und meine Ratskollegin Renate Grimm hat zuletzt auch auf die Nebenwirkungen hingewiesen. Denn effektiv dürfte der Stromverbrauch mit einer Subvention steigen, was den Strompreis für alle Unternehmen, die nicht profitieren, zusätzlich verteuert. Am Ende zahlen das die Verbraucher.
Handel und das Handwerk hoffen ebenfalls auf eine Entlastung. Sie setzen allerdings auf eine Senkung der Stromsteuer auf das EU-Minimum. Wäre das nicht der einfachere und womöglich auch bessere Weg, um die Unternehmen kurzfristig zu entlasten?
Eine Gefahr in dieser Diskussion ist sicher, dass auch alle anderen Unternehmen niedrigere Steuern wollen. Aber es ist natürlich ein Unterschied, ob ein Unternehmen im internationalen Wettbewerb steht oder eben nicht wie zum Beispiel ein Metzger oder Bäcker. Hier gibt es womöglich Spielräume, höhere Kosten weiterzugeben. Bei Unternehmen im internationalen Wettbewerb oder in Grenzlage ist das schon schwieriger. Wenn man über eine solche Subvention nachdenkt, sollte man also sehr genau hinschauen – auch mit Rücksicht auf die fiskalischen Effekte und die Strukturpolitik.
Interview: Thomas Schmidtutz