„Die Entflechtung von Russland läuft in hohem Tempo“

von Redaktion

Wegen der Sanktionen suchen deutsche Firmen neue Partner – Potenzial hat der Handel mit der Ukraine

Berlin – Nur bei Fischereierzeugnissen scheint der Handel mit Russland trotz Sanktionen zu florieren: Um 2100 Prozent stiegen die Einfuhren dieser Warengruppe aus Russland nach Deutschland im ersten Halbjahr – allerdings nur von 1000 auf insgesamt 21 000 Euro. Vielleicht waren es ein paar Dosen echter Kaviar zusätzlich. Ansonsten haben sich deutsche Firmen, die traditionell stark im Geschäft mit Osteuropa sind, tatsächlich abgewendet. Dafür wird Zentralasien wichtiger. Und die Ukraine.

Allein im ersten Halbjahr brach der Wert der deutschen Einfuhren aus Russland um 89 Prozent zum Vorjahreszeitraum ein, wie Zahlen des Ostausschusses der deutschen Wirtschaft zeigen. Getrieben ist der Rückgang vom Importstopp für Gas und Öl. Bei manchen Produktgruppen liegt das Minus weit über 90 Prozent, was auch den Sanktionen geschuldet ist. Auch der Wert der Exporte schrumpfte um 40,5 Prozent. Geliefert werden noch chemische Erzeugnisse, Medikamente, Nahrungsmittel. Russland fiel auf der Liste der wichtigsten deutschen Handelspartner von Rang 13 auf Rang 36, Tendenz absteigend. „Die Entflechtung vom russischen Markt läuft in hohem Tempo“, sagt Catharina Claas-Mühlhäuser, Vorsitzende des Ostausschusses. „Wir beobachten eine tiefgreifende Neuordnung unserer Wirtschaftsbeziehungen mit und in der Region.“

So nimmt der Handel vor allem mit zentralasiatischen Ländern zu. Der Wert der gehandelten Waren mit Armenien, Belarus, Kirgisistan und Tadschikistan legte zwischen erstem Halbjahr 2022 und erstem Halbjahr 2023 um rund eine Milliarde Euro zu, mit Kirgisistan vervierfachte er sich sogar. Das gleicht die wegfallenden Geschäfte mit Russland aber nicht aus, dort schrumpfte der Handel um 26,7 Milliarden Euro. In den Nachbarländern Russlands gebe es eine gewisse Sonderkonjunktur, sagte Claas-Mühlhäuser. Zahlreiche Russen hätten sich dorthin geflüchtet und angesiedelt. Außerdem würden Produkte jetzt direkt in die Länder geliefert. Bis zum Kriegsausbruch seien sie über Russland gekommen. Für eine Umgehung von Sanktionen über Lieferungen an diese Länder gibt es keine Hinweise, hier kommt eher etwa der Handel mit China in Frage.

Vor allem hat aber die kriegserschütterte Ukraine aus Sicht des Ostausschusses Wachstumspotenzial. Der Wiederaufbau könne nicht warten, sagte Claas-Mühlhäuser. Hier verspricht sich die deutsche Wirtschaft Aufträge. Bereits jetzt denken Firmen trotz des Krieges über neue Investitionen in dem Land nach. Der Agrar- und Pharmakonzern Bayer plant eine Saatgutfabrik für rund 60 Millionen Euro, der Baustoffhersteller Fixit will ein drittes Werk eröffnen, der Gipsspezialist Knauf denkt ebenfalls über einen neuen Standort nach. Und Notus Energy aus Potsdam arbeitet an einem Windparkprojekt. Schon im ersten Halbjahr legte der Handel um fast 25 Prozent zu – wobei in den Zahlen auch gelieferte Rüstungsgüter enthalten sind, die allerdings nicht gesondert ausgewiesen werden.

Eine Großaufgabe wird sein, das Energienetz der Ukraine wiederherzustellen und mit neuer Technik effizienter aufzustellen. Die Anlagen sind derzeit regelmäßig unter Beschuss der russischen Armee. Die Ukraine habe eine Schlüsselrolle bei der Netzstabilität in Südosteuropa, sagte Christian Bruch, stellvertretender Vorsitzender des Ostausschusses, – und damit auch für Teile der EU. Ohnehin sieht er große Chancen für die Ukraine im Energiesektor und bei Windanlagen und Solarparks. So habe das Land bereits vor dem Krieg daran gearbeitet, Wasserstoff mittels erneuerbarer Energien herzustellen.

Claas-Mühlhäuser sagte, der Wiederaufbau solle eng mit dem EU-Beitrittsprozess verknüpft werden. Das stelle sicher, dass gleiche Normen und Standards gälten. Und es bringe Transparenz. Bisher bremst vor allem die allgegenwärtige Korruption im Land. Die Vorsitzende des Ostausschusses sieht allerdings Bewegung. Zuletzt hatte Ukraines Präsident Wolodymyr Selenskyj den Verteidigungsminister wegen Korruptionsvorwürfen ausgetauscht. BJÖRN HARTMANN

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