München – Azra Jakupovic aus Bosnien steht hinter der Theke der Vinenzmurr-Filiale an der Münchner Freiheit und legt Weißwürste in die Auslage. Der neue Job, für den sie vor ein paar Tagen erst nach Deutschland gekommen ist, macht ihr sichtlich Spaß. Und sie braucht ihn auch: Vor zwei Jahren ist ihr Mann, ein Arzt, überraschend verstorben, etwa zeitgleich wurde sie arbeitslos. „Ich stand vor dem Nichts“, erzählt die 45-Jährige. „Das hier ist meine Chance auf ein neues Leben. Ich freue mich, dass ich endlich in Deutschland bin.“
Für Azra Jakupovic geht es also um viel – und nicht nur für sie. Auch ihr Arbeitgeber, die Metzgereikette Vinzenzmurr, will, dass sie fern der Heimat gut ins neue Leben startet. Azra ist die erste Mitarbeiterin, die an einem innovativen Ausbildungsformat teilnimmt, mit dem Vinzenzmurr frische Kräfte in seine 220 Filialen locken will. Dafür werden ab dem ersten Lehrjahr bis zu 2800 Euro im Monat gezahlt – etwa das Doppelte des üblichen Lehrlingsgehaltes. Vinzenzmurr zielt dabei vor allem auf ausländisches Personal wie Azra. Doch das Programm ist auch für deutsche Bewerber offen.
Dass die Kette beim Einstiegsgehalt so großzügig ist, hat einen Grund: Sie braucht dringend Personal und die Suche könnte besser laufen, auch im Ausland. Um Fachkräfte nach Deutschland holen zu können, müssen diese ausgebildet sein. Es gibt aber kaum Länder mit hierzulande anerkannter Metzgerausbildung. Biete man ausländischen oder älteren deutschen Bewerbern aber eine Lehre an, winken diese ab, sagt Markus Brandl, Chef von Vinzenzmurr. Bei einem Einstiegsgehalt von 1200 bis 1450 Euro verständlich: „Das reicht in München für eine Familie nicht zum Leben.“
Brandl musste sich also etwas anderes überlegen. Herausgekommen ist das Ausbildungsprogramm „Azubis OB“, also „ohne Berufsschule“. Denn statt wochenlang im Blockunterricht zu büffeln, schuften die Arbeitskräfte künftig trotz Lehre Vollzeit in der Filiale – und arbeiten dort, so Brandls Kalkül, ihren Gehaltsaufschlag gleich wieder herein. Möglich wird das durch einen Trick: Wer älter ist als 21, ist nicht schulpflichtig, muss also auch nicht in die Berufsschule.
Ein sehr unkonventioneller Weg, für den sich Brandl sofort rechtfertigt: Er sei Fan des dualen Ausbildungssystems. Aber für ältere Arbeitskräfte, die eine Familie ernähren müssen oder extra aus dem Ausland hierherziehen, passe die auf Jugendliche zugeschnitte Berufsschulausbildung nicht. Außerdem seien sowieso nur zwei berufsbezogene Fächer sowie Sozialkunde für die Gesellenprüfung relevant. Mathe, Deutsch, Englisch, Religion oder Sport würden zwar gelehrt und geprüft, zählen aber nicht zur Note. Man könne also auf sie verzichten.
Als Ausbildung zweiter Klasse sieht Brandl seinen Ansatz trotzdem nicht. „Unsere OB-Azubis machen am Ende die Gesellenprüfung, nur als externe Prüflinge“, erklärt der Chef. „Damit haben sie auch ohne Berufsschule den gleichen Abschluss.“ Von der Handwerkskammer ist das so zugelassen. Die Ausbildung erfolge in den Filialen, wo man Lehrlingen das Metzgerhandwerk von Grund auf beibringe. Außerdem habe Vinenzmurr ein eigenes Ausbildungszentrum, in dem auch Quereinsteiger geschult werden. Vor den Gesellenprüfungen gebe es dort zusätzlich noch einen mehrwöchigen Crashkurs. „Unsere externen Prüflinge sind also sicher nicht schlechter vorbereitet“, verspricht Brandl.
Etwa 20 OB-Ausbildungsverträge hat Vinenzmurr bereits abgeschlossen. Azra Jakupovic ist die erste, die ihre Stelle angetreten hat. Angst vor den Prüfungen hat sie nicht. Warum auch, sie hat in ihrem Leben schon viel gemeistert. Auf der Flucht vor dem Krieg im ehemaligen Jugoslawien verschlug es sie als Kind für ein paar Jahre nach Deutschland, sie ging hier zur Schule und lernte die deutsche Sprache. Zurück in Bosnien hat sie lange in Bäckereien und in der Metallindustrie gearbeitet und zwei Kinder großgezogen.
Azras Kinder sind in Bosnien geblieben. Die Tochter geht zur Schule, der Sohn macht nun eine Ausbildung. „Noch muss ich mich finanziell um sie kümmern, deshalb hätte ich mit einem normalen Lehrlingsgehalt gar nicht nach München ziehen können“, sagt sie. Sie vermisst die beiden. Deshalb ist ihr nächstes Ziel besonders wichtig: Eine bezahlbare Wohnung finden. „Dann können mich meine Kinder hier wenigstens besuchen.“