München – Es gibt wenige Insider, die so nahe am Wirecard-Skandal waren, wie Thomas Eichelmann. Als der einstige Dax-Konzern Mitte 2020 kollabiert ist, war der heute 58-Jährige dessen Aufsichtsratschef. Als Zeuge im seit neun Monaten laufenden Strafprozess gegen Ex-Chef Markus Braun und zwei weitere Angeklagte war er deshalb von besonderem Interesse.
Voraussichtlich ab Februar 2024 wird in München aber ein Schadenersatzprozess in Sachen Wirecard beginnen, der sich auch gegen ehemalige Aufsichtsräte wendet. Das war Eichelmanns Zeugenaussage anzumerken. Sie war defensiv, ließ Braun aber in keinem guten Licht erscheinen, ohne vorerst schlagende Beweise für dessen Schuld zu liefern. Zentrale Frage sei es auch für den Wirecard-Aufsichtsrat gewesen, in Erfahrung zu bringen, ob angeblich hochprofitable Geschäfte mit sogenannten Drittpartnern (TPA) in Asien jemals existiert haben und ob es 1,9 Milliarden Euro auf Wirecard-Treuhandkonten überhaupt gab. Für die Anklagevorwürfe gegen Braun & Co. sind das entscheidende Punkte. „Ich habe angeregt, das TPA-Geschäft kritisch auf den Prüfstand zu stellen“, erklärte Eichelmann. Kritisch heißt, eine Sonderuntersuchung durch Wirtschaftsprüfer der KPMG wurde beauftragt, deren Ergebnisse so vernichtend waren, dass sie die dann im Juni 2020 eingetretene Firmenpleite besiegelt haben. Damit stellt Eichelmann klar, dass der von ihm von Mitte 2019 über ein Jahr lang geführte Aufsichtsrat misstrauisch geworden war, ob wesentliche Teile des Geschäfts existiert haben oder frei erfunden waren.
Die Zweifel im Gremium waren so tief, dass ein Rauswurf des heute auf der Flucht befindlichen Wirecard-Vorstands Jan Marsalek praktisch beschlossen war. Zudem habe man Brauns Zuständigkeiten beschneiden wollen. „Das ist ein einmaliger Vorgang in einem Dax-Konzern“, sagt Eichelmann noch heute. Sogar ein Rauswurf Brauns sei im Frühjahr 2020 erwogen worden. Auf alle Fälle verlieren sollte er die Verantwortung für Vertrieb und Finanzmarktkommuniktion.
Denn Braun hatte im April 2020 eine nicht nur nach Eichelmanns Ansicht falsche Pflichtmitteilung an die Börse veröffentlicht. Darin hatte er behauptet, KPMG habe keine Hinweise für Betrug bei Wirecard gefunden. In Wahrheit hatten die Wirtschaftsforensiker erklärt, diese entscheidende Frage gar nicht klären zu können. Denn der KPMG seien alle Daten und Informationen vorenthalten worden, die existierende TPA-Geschäfte oder Treuhandmilliarden hätten beweisen können. Heute weiß man, warum das so war.
Braun behauptet bis heute, dass beides wirklich existiert habe und stellt sich selbst als Opfer einer kriminellen Bande dar. An eine Aussage Brauns zum TPA-Geschäft kann Eichelmann sich noch gut erinnern. „Es ist echtes und reelles Geschäft und zu 100 Prozent sauber“, habe er KPMG in seinem Beisein versichert. Er, Braun, habe Herrschaftswissen, das das garantiere. Einen direkten Beweis für eine Mittäterschaft Brauns liefert das nicht. Klar ist aber, dass die Frage, ob TPA-Geschäfte jemals exisitiert haben, für seine Verteidigungsstrategie fundamental ist. Bislang wurde im Prozess noch kein Beweis dafür gefunden.
Der verhandlungsführende Richter Markus Födisch hat öffentlich noch keine klaren Hinweise dazu gegeben, was er über den bisherigen Prozessverlauf denkt. Den aber liefert ein Antrag auf Haftentlassung für Braun und die Reaktion des Gerichts darauf. Braun sitzt seit über drei Jahren in Untersuchungshaft. Das Gericht hat das Begehren jüngst mit der Begründung abgelehnt, bei Braun bestehe neben weiter dringendem Tatverdacht auch eine Flucht- und Verdunkelungsgefahr.
Neun Monate Beweisaufnahme hätten das Bild verdichtet, dass das TPA-Geschäft nicht wie in Wirecard-Bilanzen jahrelang ausgewiesen stattgefunden haben könne. Gut sieht es für Braun aktuell nicht aus. Zudem könnte die auf mehrere Tage angesetzte Zeugenaussage Eichelmanns noch weiteres Ungemach zu Tage fördern. Ein Urteil im Mammutprozess dürfte frühestens Ende 2024 fallen.