München – Sebastian Wilken reist gerne schlafend durch Europa. Kaum einer kennt daher das Nachtzug-Angebot so gut wie er. Inzwischen lebt der gebürtige Niedersachse in Finnland, auf seiner Internet-Seite und in seinem Newsletter (zugpost.org) berichtet er aber weiterhin von seinen Bahnreisen. Wir sprachen mit ihm über Mängel im Netz – und warum es trotzdem lohnenswert sein kann, in einen Nachtzug zu steigen.
Erinnern Sie sich noch an Ihre erste Reise mit dem Nachtzug?
Ja, klar. Das war vor etwa zehn Jahren eine Fahrt von Basel nach Hannover.
Wie kam es dazu?
Ich habe in Oldenburg Physik studiert und musste als Student und später als wissenschaftlicher Mitarbeiter regelmäßig zu Konferenzen in Europa reisen. Ich habe den Nachtzug dann einfach mal ausprobiert, und das hat mir direkt gefallen, obwohl die Nachtzüge damals noch von der Deutschen Bahn betrieben wurden.
Was war da anders?
Man hat gemerkt, dass die Deutsche Bahn ihre Nachtzüge nur noch sehr stiefmütterlich behandelt. Verbindungen sind ausgefallen, die Service-Qualität an Bord wurde immer schlechter, Speisewagen wurden ausrangiert. Im Dezember 2016 hat sich die Deutsche Bahn von ihrem Nachtzuggeschäft dann endgültig verabschiedet.
Trotzdem sind Sie weiter Nachtzug gefahren.
Mich hat das Durch-die-Nacht-Fahren fasziniert, die ganze Atmosphäre an Bord hat mich begeistert. Gerade wenn man mit schmalem Geldbeutel unterwegs ist, ist der Nachtzug etwas Tolles, weil man sich Übernachtungen in Hotels oder Hostels spart. Außerdem ist das Reisen zeiteffektiv und klimafreundlich.
Wo waren Sie schon unterwegs?
Bis auf ein paar wenige Ausnahmen in jedem europäischen Land, in dem es Nachtzüge gibt – Mitteleuropa, Großbritannien, Skandinavien. Schön und vergleichsweise günstig sind auch Fahrten in osteuropäischen Ländern wie Tschechien, Polen, Ungarn oder der Slowakei. Und als es noch möglich war, bin ich mit dem Nachtzug durch die Ukraine gereist.
Wo waren Sie zuletzt?
In Schottland im Caledonian Sleeper. Die Fahrt ist zwar sehr teuer, aber der Zug ist auch eine Art Hotel auf Schienen. Alles ist sehr luxuriös, daher zahlt man auch schnell Preise von über 200 Euro.
Was fehlt auf Ihrer Liste?
Leider ist es mir nie gelungen, durch Spanien nach Portugal zu reisen. Spanien hat sein Nachtzug-Angebot während der Corona-Pandemie eingestellt. Davor konnte man an die französisch-spanische Grenze fahren, am nächsten Tag war man in Lissabon. Jetzt ist Portugal abgekoppelt vom Rest Europas – zumindest was Nachtzüge angeht.
In Deutschland versuchen die Österreichischen Bundesbahnen, ÖBB, seit dem Ausstieg der Deutschen Bahn die Lücke im Nachtzug-Angebot zu schließen.
Daher gehört München inzwischen zu den deutschen Städten mit dem besten Nachtzug-Angebot. Das mag auch mit der geografischen Lage zusammenhängen, weil hier viele Verbindungen nach Süden und Osten gehen.
Billig ist eine Reise mit dem Nachtzug aber nicht.
Leider ist der Nachtzug im deutschsprachigen Raum Opfer seines eigenen Erfolges geworden: Die Nachfrage ist riesig, das Angebot ist begrenzt. Es gibt einen enormen Mangel an Schlaf- und Liegewagen.
Wie ist das Angebot in anderen Ländern?
In Finnland hat ein Nachtzug, der von Helsinki nach Lappland fährt, sieben, acht oder neun Schlafwagen – die Waggons sind doppelstöckig. Wir reden hier über 19 Zwei-Bett-Abteile pro Wagen, die Hälfte davon mit eigener Dusche und WC. Jede Nacht werden so hunderte Betten zwischen Helsinki und Lappland hin- und hertransportiert – in einem Land mit gerade einmal 5,5 Millionen Einwohnern.
Und in Mitteleuropa?
Zwischen Berlin und Wien, wo allein die beiden Städte gemeinsam so viele Einwohner wie ganz Finnland haben, fährt jede Nacht ein ÖBB-Zug mit einem einzigen Schlafwagen und zwei Liegewagen.
Warum koppeln die ÖBB nicht einfach noch ein paar Waggons dran?
So einfach ist das nicht. In Mitteleuropa ist es durch den Ausstieg der Deutschen Bahn im Jahr 2016 zu einem Bruch gekommen, der jetzt mühsam aufgeholt werden muss. Und obwohl die Deutsche Bahn die Power hätte, Nachtzüge zu betreiben, weigert sie sich beharrlich, in das Geschäft wieder einzusteigen.
Und überlässt das Feld den ÖBB, mit denen die Deutsche Bahn eine Kooperation unterhält.
Aber ein vergleichsweise kleiner Betreiber wie die ÖBB kann das Netz nur Schritt für Schritt ausbauen. Die ÖBB machen das ja nicht zum Spaß, für die ist es ein riesiges Wagnis, ihr Angebot auszuweiten. Zudem investieren die ÖBB in neue Züge, was teuer ist. Und die ÖBB haben festgestellt: Wegen der hohen Nachfrage bekommt sie ihre Züge auch mit teuren Preisen voll.
Wie viel kostet eine Nachtfahrt mit den ÖBB?
Wer ein paar Wochen im Voraus eine Reise von München nach Venedig bucht, zahlt über den Daumen gepeilt 50 Euro im Sitzwagen, 100 Euro im Liegewagen und 200 Euro im Schlafwagen. Im europäischen Vergleich sind die Preise, die ab München bezahlt werden, ziemlich hoch.
Was kostet die Fahrt in anderen Ländern?
Für die Strecke von Mailand nach Sizilien, eine der längsten und schönsten Nachtzugverbindungen in Europa, zahlt man bei der italienischen Bahn oft weniger als 100 Euro – wohlgemerkt im Einzelabteil eines Schlafwagens. In Finnland kann man von Helsinki nach Lappland im Einzelabteil eines Schlafwagens oft für 49 Euro reisen.
Was machen die Finnen besser?
Bei 200 bis 300 Betten in einem finnischen Nachtzug sind ganz andere Preise möglich. Von München nach Venedig fährt nur ein Schlafwagen mit 36 Betten – entsprechend hoch ist der Preis.
Von welchen Ländern könnte Deutschland noch lernen?
Von Frankreich. Die SNCF ist etwa zeitgleich mit der Deutschen Bahn fast vollständig aus dem Nachtzuggeschäft ausgestiegen, hat aber eine komplette Kehrtwende hingelegt und bietet jetzt – politisch unterstützt – wieder viele Nachtzüge an.
Mit welcher Idee?
Die SNCF bietet keine Schlafwagen an, sondern nur Liegewagen mit einem einfachen Service. Dafür bekommt man eine Fahrt von Paris nach Nizza oft schon ab 29 Euro. Natürlich entspricht der Komfort eher einer Jugendherberge auf Schienen, aber in Frankreich glaubt man an den Nachtzug, obwohl es parallel das Hochgeschwindigkeitsnetz mit den TGV-Zügen gibt. Damit ist auch das Argument widerlegt, dass man in Deutschland wegen der ICEs keine Nachtzüge bräuchte.
Für jemand, der noch nie mit dem Nachtzug unterwegs war: Was wäre eine schöne Einsteigertour?
Ein Tipp wäre der Nachtzug von München ins kroatische Rijeka, der immer in den Sommermonaten verkehrt. Man steigt abends in München ein und wacht morgens an der Adria auf. Gerade für Fahrten am Ende der Saison kann man hin und wieder ein Schnäppchen ergattern. Mein zweiter Tipp wäre eine Fahrt durch Italien: Man fährt tagsüber mit dem Zug von München nach Mailand, abends steigt man in Mailand in den Nachtzug nach Sizilien.
Was macht die Reise so besonders?
Die Landschaft am nächsten Morgen ist einzigartig. Teilweise verläuft die Strecke direkt am Meer entlang. Und um nach Sizilien zu kommen, wird am Ende der gesamte Zug auf die Fähre verladen –das ist sehr beeindruckend.
Gibt es eine Reise, die Sie persönlich noch interessieren würde?
Ich möchte einmal von Belgrad in Serbien nach Bar in Montenegro reisen. Das soll eine der schönsten Bahnstrecken in Europa sein.
Nur dürfte man nachts beim Blick aus dem Fenster herzlich wenig sehen.
Der Zug ist aber oft heillos verspätet, sodass die Chance hoch ist, dass man von der spektakulären Landschaft viel mitbekommt.
Interview: Sebastian Hölzle