Ifo: Wo 9000 Chefs ihr Kreuzchen machen

von Redaktion

VON SEBASTIAN HÖLZLE

München – Manchmal ist Klaus Wohlrabe regelrecht verblüfft: „Es gab schon Anrufe von Bundestagsbüros am Tag vor der Veröffentlichung des ifo-Geschäftsklimaindex, und die Mitarbeiter wollten wissen, ob ich ihnen schon einmal vorab den Wert geben könnte“, erinnert sich der ifo-Wissenschaftler. Auch Journalisten hätten das schon gefragt. Er wisse nicht, ob es schlicht Naivität sei, oder ob die Anrufer wirklich glaubten, er könne die Zahl am Vorabend nennen. „Denn am Tag vor der Veröffentlichung kenne ich die Zahl selbst nicht“, sagt Wohlrabe.

Einmal im Monat wirkt das ifo-Institut im Münchner Stadtteil Bogenhausen wie der Vatikan bei einer Papst-Wahl. „Der Index kann die Märkte bewegen“, begründet Wohlrabe die Geheimniskrämerei. Ist der Wert in der Welt, und fällt er anders aus als allgemein erwartet worden war, kann es sein, dass Investoren im großen Stil Aktien deutscher Konzerne kaufen oder verkaufen. „Es kann sogar passieren, dass sich der Wechselkurs des Euro zum Dollar ändert“, so Wohlrabe.

Würde ein Marktteilnehmer den Wert des ifo-Index schon vor seiner Veröffentlichung kennen, könnte er die Reaktion der Börse vorausahnen und mit Wetten auf fallende oder steigende Kurse ein Vermögen verdienen.

Von riskanten Börsenwetten ist am ifo-Institut aber ohnehin nichts zu spüren. Die einzige Spekulation, die es hier gibt, ist eine monatliche Umfrage unter aktuellen und ehemaligen ifo-Mitarbeitern. Die Volkswirte dürfen raten, wie sich der Index entwickelt hat. „Das ist wie ein Tippspiel zu einer Fußball-WM“, sagt Wohlrabe. Am Jahresende wird ausgewertet, wer das beste Bauchgefühl für die deutsche Konjunktur hat.

Abgesehen von dieser Spielerei geht es in den ifo-Büros streng wissenschaftlich zu. Schreibtisch, Computerbildschirm, Telefon – „viel zu sehen gibt es hier leider nicht“, sagt Wohlrabe fast schon entschuldigend. Das einzig Handfeste, das er präsentieren kann, ist ein schwarzer Drucker, der sich etwas schüchtern im Vorzimmer eines Büros versteckt.

So unscheinbar das Gerät wirkt, so entscheidend ist es für die Beurteilung der Lage in der viertgrößten Volkswirtschaft der Erde. Der Drucker verfügt über ein integriertes Fax. „Rund 20 Prozent der Fragebögen erhalten wir nach wie vor per Fax oder Brief“, sagt Wohlrabe.

Jeden Monat bittet das ifo-Institut tausende Firmen in Deutschland darum, ihre Geschäftslage zu beurteilen und ihre Erwartungen für die nächsten sechs Monate zu formulieren. Dax-Manager, Kioskbesitzer, Schreinerei-Inhaber – das ifo-Institut fragt quer durch die Branchen. Bei der Geschäftslage können die Befragten „gut“, „befriedigend“ oder „schlecht“ ankreuzen. Bei den Geschäftserwartungen kann das Kreuzchen bei „günstiger“, „gleich bleibend“ oder „ungünstiger“ gesetzt werden. Hinzu kommen Sonderfragen, nur selten gibt es mehr als drei Antwortmöglichkeiten.

„Der Vorteil unserer Fragemethodik ist: Sie ist super-einfach“, sagt Wohlrabe. Das führt zu einer hohen Teilnehmerzahl. Rund 9000 Antworten erhält das ifo-Institut jeden Monat, 80 Prozent nehmen online an der Befragung teil. Und aus eigenen Studien wissen die ifo-Ökonomen: In der Regel setzt der Chef persönlich das Kreuzchen.

„Das führt zu einer hohen Qualität der Antworten“, meint Wohlrabe. Je nach Branche fließen die Antworten mit unterschiedlichem Gewicht in den ifo-Index ein. 50 Prozent Dienstleister, 30 Prozent Industrie, am Ende soll ein möglichst perfektes Abbild der deutschen Wirtschaft entstehen. Zumindest fast: „Der ifo-Index ist ein Konjunkturindikator. Wir befragen beispielsweise keine Unternehmen aus dem Gesundheits- oder dem Bankensektor, da diese nicht konjunkturgetrieben sind“, erklärt Wohlrabe das Konzept.

Rückt das Monatsende näher, laufen im Büro von Stefan Sauer sämtliche Daten ein. „Am Abend vor der Veröffentlichung drücke ich ,Start‘, dann läuft ab null Uhr die Berechnung durch“, sagt der Statistiker. Die Berechnung dauere nicht länger als 20 Minuten. Die Zahl bleibt aber geheim, niemand weiß, was das Statistikprogramm am ifo-Institut errechnet hat.

Die beiden ersten Personen, die am Morgen die aktuellen Zahlen sehen, sind Klaus Wohlrabe und Stefan Sauer. Punkt 7 Uhr schickt ihnen der ifo-Rechner eine automatisch erstellte E-Mail mit den Ergebnissen. Wohlrabe überfliegt die Tabellentürme, sucht in den Zahlen nach Auffälligkeiten, nach und nach offenbart sich ihm die konjunkturelle Stimmungslage in Deutschland.

Viertel vor Neun trifft sich Klaus Wohlrabe mit ifo-Präsident Clemens Fuest und ifo-Konjunkturchef Timo Wollmershäuser. Mit am Tisch sitzen auch: Die Kommunikationschefin, ein Pressesprecher, eine Assistentin und ein Englisch-Übersetzer. Hinter verschlossenen Türen diskutiert die Runde, wie die Zahlen zu interpretieren sind. Die Volkswirte geben ihre Einschätzung ab, zwei Pressemitteilungen werden erstellt – eine in deutscher und eine in englischer Sprache. Um 10 Uhr wird der Index in einer Telefonkonferenz verkündet und per E-Mail in alle Welt verschickt. Für Wohlrabe, Wollmershäuser und ifo-Präsident Fuest beginnt nun ein langer Interview-Marathon. Journalisten wollen wissen, wie die Zahl zu verstehen ist.

Gestern war in der Pressemitteilung zu lesen: Die Stimmung hat sich wieder verbessert, der Index ist im Oktober auf 86,9 Punkte gestiegen, nach 85,8 Punkten im September (siehe Grafik). Fuest kommentierte: Dies sei ein „Silberstreif am Horizont“. An der Börse machte der Dax trotzdem kaum Boden gut, Anleger blieben vorsichtig.

Der ifo-Index ist auch nicht der einzige Indikator, der für sich beansprucht, die Stimmung in der Wirtschaft abzubilden. „Es gibt in Deutschland zwei Hauptkonkurrenten für den ifo-Index: Das eine ist der Einkaufsmanager-index PMI, das andere der ZEW-Index des Mannheimer Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung“, sagt Wohlrabe. Der PMI habe den Vorteil, dass dieser auf Umfragen basiere, die überall auf der Welt gleich durchgeführt würden. Aber anders als der ifo-Index habe der PMI keine vorausschauende Beurteilung, sondern analysiere lediglich die aktuelle Lage. „Und das ZEW befragt keine Unternehmen, sondern etwa 300 Analysten und Volkswirte. Wir dagegen befragen die Unternehmen direkt“, hebt Wohlrabe hervor.

1949, wenige Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg, befragte das ifo-Institut zum ersten Mal die Firmen. „Damals hatte die offizielle Statistik in Westdeutschland große Lücken“, sagt Wohlrabe. Nach und nach sei aus den Befragungen ein Konjunkturindikator entstanden, der in Echtzeit Auskunft über die Lage der Wirtschaft gebe und einen Anhaltspunkt liefert, wie es mit der Konjunktur in Zukunft weitergehe. Und glaubt man den Zahlen von gestern, ist vorsichtiger Optimismus wieder angebracht.

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