Debrecen – Wer am ehemaligen Militärflughafen von Debrecen landet, kommt sich ein bisschen vor wie im Nirgendwo. Kein Wunder: Die Stadt, die berühmt für die gleichnamigen Würste und ihr Truthahnfest ist, gilt als Tor zur Puszta, der schier endlosen ungarischen Steppenlandschaft. Täuschen sollte man sich von der Ländlichkeit aber nicht lassen. Debrecen ist mit 200 000 Einwohnern hinter Budapest nicht nur die zweitgrößte Stadt des Landes. Hier in Ungarn, auf grün-brauner Wiese, entsteht auch eines der größten Zentren für E-Mobilität in Europa. Mittendrin: Der Münchner Autobauer BMW.
Wenige Autominuten vom Flughafen entfernt baggert und betoniert BMW an seiner Zukunft. Auf vier Millionen Quadratmetern, der Fläche von 560 Fußballfeldern, entsteht eine supermoderne Fabrik. Kapazität: 150 000 Autos pro Jahr. 2025 soll sie fertig sein. Dann wird Debrecen das erste Werk sein, in dem die Neue Klasse vom Band laufen wird – die nächste Generation elektrischer BMW, von der sich der Dax-Konzern einen Quantensprung bei der E-Mobilität erhofft. Nachhaltigkeit ist dabei zentral: Produziert werden sollen die Fahrzeuge mit möglichst viel Recyclingmaterial und komplett ohne fossile Energien. Dafür pflanzt BMW unzählige Solaranlagen auf die Dächer der nagelneuen Werkshallen.
Ganz so weit ist es aber noch nicht. Während erste Hallen trotz einer durch Corona erzwungenen Baupause halbwegs fertig aussehen, ragen andere noch als Stahlgerippe aus der Graslandschaft. Auch die Industrieroboter, die hier künftig an Karosserien schweißen werden, sind noch nicht da. Dafür sind die ersten Mitarbeiter eingezogen: 100 Azubis erlernen in einem neuen Trainingszentrum schon jetzt ihre Jobs als Mechatroniker, Elektrotechniker oder IT-Spezialisten, und zwar im deutschen dualen System. Bis 2025 werden es 300 sein. „Hier werden wir ihnen alles über moderne Automobilproduktion vermitteln“, sagt Werksleiter Hans-Peter Kemser, zuvor Chef des Leipziger Werks, bei der Eröffnung des Zentrums. Auch BMW-Personalchefin Ilka Horstmeier spricht von einem „Meilenstein“. Immerhin hätten nun die ersten Mitarbeiter ihre Arbeit auf dem Gelände aufgenommen. „Das Werk Debrecen spielt eine wichtige Rolle dabei, BMW elektrisch, digital und zirkulär zu machen“, sagt Horstmeier. Eine gute Aus- und Weiterbildung sei für den Autobauer ein „entscheidender Erfolgsfaktor, um Talente zu gewinnen und diese für künftige Aufgaben vorzubereiten.“
Ein großer Tag also für BMW – und wohl auch Ungarn. Das Land mausert sich langsam, aber sicher zum heimlichen Zentrum für E-Mobilität in Europa. In Debrecen bietet die Universität spezielle Studiengänge für den modernen Autobau an, die Tausenden Absolventen sind als Fachkräfte begehrt. Für deutsche Autofirmen ist der Standort also längst nicht nur wegen der günstigeren Steuer interessant. Neben BMW sind auch Audi und Mercedes mit Werken in Ungarn, auch einige große Batteriehersteller sind vor Ort. Direkt neben BMW wird etwa CATL aus China eine gigantische Batteriefabrik eröffnen, um die Münchner exklusiv zu beliefern. Weil sie Unmengen an Wasser brauchen dürfte, ist sie bei Anwohnern nicht ganz unumstritten. Sie soll aber die größte Investition in der Geschichte des Landes sein, mit der Ungarn laut Außen- und Handelsminister Péter Szijjártó zum zweitgrößten Batteriehersteller der Welt aufsteigen könnte.
Entsprechend groß ist das Interesse an den Projekten der Chinesen und der Bayern. Nicht nur ein beachtlicher Tross an Journalisten ist aus allen Teilen des Landes für die Eröffnung des Trainingscenters von BMW angereist, auch Außenminister Szijjártó ist gekommen. Während die Wirtschaft fast überall unter den vielen Krisen der vergangenen Jahre gelitten habe, sei der Siegeszug der Elektromobilität ungebrochen. „Ungarn ist der Gewinner dieser Elektrifizierung“, erklärt Szijjártó. Das liege auch daran, dass man nicht nur mit dem Westen Geschäfte mache, sondern auch gute Kontakte in den Osten pflege. Und die wolle man sich – den Seitenhieb kann sich Szijjártós nicht verkneifen – von Brüssel nicht verbieten lassen.
Selbstbewusste Worte, die bestens zur Linie der Rechtsregierung in Ungarn passen. Ministerpräsident Viktor Orban gefällt sich seit Jahren als Enfant Terrible der EU, schürt Homophobie und rüttelt an der unabhängigen Justiz und der freien Presse. Erst vor wenigen Tagen schüttelte Orban Russlands Präsident Wladimir Putin trotz dessen Überfalls auf die Ukraine, deren Westgrenze übrigens nur rund 100 Kilometer von Debrecen entfernt ist, demonstrativ die Hand. Das Engagement der Bayern in einem Land, das meist in Fundamentalopposition zu den europäischen Partnern steht, könnte also auch kritische Fragen nach sich ziehen.
Wie geht BMW mit dieser Situation um? „Wir errichten in Debrecen ein neues Automobilwerk“, stellt BMW-Managerin Ilka Horstmeier im Gespräch klar. Damit werde man in der Region ein wichtiger Arbeitgeber sein und sich auch kulturell und gesellschaftlich engagieren. „Das kann einen nachhaltigen Beitrag zur Entwicklung der Stadt und der Gesellschaft in Ostungarn leisten“, erklärt Horstmeier. „Wir stehen für Vielfalt, Toleranz und ein vorurteilsfreies Arbeitsumfeld – weltweit und an allen Standorten.“