Inflation in der Weihnachtsbäckerei

von Redaktion

VON MATTHIAS SCHNEIDER

München – Rund 60 Prozent Wachstum in einem Jahr: Die Rede ist nicht von einer erfolgreichen Aktie, sondern von einem scheinbar banalen Alltagsgut: Haushaltszucker hat eine beachtliche Preissteigerung hinter sich. Doch weshalb liegt sie um ein Vielfaches über der allgemeinen Inflationsrate? Der Grund liegt, wie so oft, in der globalen Landwirtschaft.

Einer, der sich auskennt, ist Günter Tissen. Der studierte Agraringenieur ist Hauptgeschäftsführer der Wirtschaftlichen Vereinigung Zucker, die die gesamte Wertschöpfungskette vom Rübenbauern bis zum Großhändler vertritt: „Europa ist beim Zucker Nettoimporteur“, erklärt Günter Tissen, „90 Prozent erzeugen wir selbst, zehn Prozent führen wir aus Ländern wie Brasilien, Indien, Südafrika oder den Andenstaaten ein.“ Dadurch hängt Deutschland an den Weltmarktpreisen, Zucker wird wie Weizen, Mais und Soja an großen Börsen wie in New York, London und Singapur gehandelt.

Die Bedeutung der Weltmarktes hat sich durch die Ernte 2022 noch einmal verstärkt: „Vergangenes Jahr gab es wegen des trockenen Sommers 15 Prozent weniger Zuckerrüben in Deutschland.“

Und der Markt funktioniert nicht immer nach den Regeln von Angebot und Nachfrage: „Zuckerproduktion ist in vielen Teilen der Erde eine politische Geschichte“, erklärt Tissen.

Das gelte unter anderem für Brasilien, mit 40 Prozent Anteil am Welthandel der wichtigste Exporteur. „Die brasilianischen Fabriken variieren ihre Ethanol- und Zuckerproduktion je nach Preisentwicklung auf den Binnen- und Weltmärkten und verändern so die jeweils verfügbaren Mengen“, erklärt Tissen. Beide Produkte werden aus Zuckerrohr hergestellt. „Im Wirtschaftsjahr 2022/23 hat Brasilien 45 Prozent des Zuckerrohrs für die Zuckerproduktion genutzt, 55 Prozent für Ethanol. Wegen des gestiegenen Zuckerpreises sieht die Prognose für 2023/24 eine Erhöhung des Zuckeranteils auf 48 Prozent vor.“ Auch in Indien gab es zuletzt ähnliche Entwicklungen, die das diesjährige Zuckerangebot verknappten.

Zu den hohen Importpreisen kamen für die heimische Industrie die hohen Energiekosten zur Unzeit: „Die Zuckerrüben werden im Herbst geerntet und müssen dann direkt verarbeitet werden.“ Doch gerade im vergangenen Jahr war die Unsicherheit groß, ob es überhaupt genug Gas für die Fabriken gibt. „Um die Lage zu verdeutlichen: Die Hersteller hatten sich – mit Zustimmung des Bundeskartellamtes – verständigt, wie man die Rüben im Fall einer Gasmangellage von einer Fabrik zur anderen fahren könnte, um zu verhindern, dass sie verderben“, so Tissen. Vor allem aber mussten die Hersteller zu Rekordpreisen Energie einkaufen. „Das spüren wir heute beim Endprodukt.“

Doch auch an den aktuell hohen Preisen würde die Branche nicht übermäßig verdienen: „Die letzten Jahre haben die Hersteller draufgezahlt“, sagt Tissen. Denn: Nachdem der Markt 2016 liberalisiert wurde, stürzten die Zuckerpreise in Deutschland ab, so der Verbandschef. „Wir hatten in Deutschland bis 2016 einen Markt, bei dem die heimische Produktion durch Produktionsquoten und Rübenmindestpreis geregelt war.“ Nach der Reform des EU-Zuckermarktes ist Deutschland stärker vom Weltmarktpreis abhängig. „Hier gibt es allerdings keinen fairen Wettbewerb.“ Denn: „In anderen Ländern herrschen viel niedrigere Anforderungen in Sachen Umweltschutz und der Zuckerpreis wird dort direkt oder indirekt subventioniert“, kritisiert Tissen.

Die Frage: Wie geht es weiter? An der Börse jedenfalls erreichte der Preis für Kristallzucker kürzlich sein Mehrjahreshoch.

Laut Thu Lan Ngyuen, Chefanalystin für Rohstoffe bei der Commerzbank, hat das aktuell vor allem mit dem Wetter zu tun: „Durch das El-Niño-Phänomen könnte es in Südasien zu dürrebedingten Ernteausfällen kommen. Das betrifft Thailand, den zweitgrößten Zuckerexporteur, und Indien, das zweitgrößte Erzeugerland. Hier gibt es jetzt schon Exportbeschränkungen, die zuletzt auf unbestimmte Zeit verlängert wurden.“ Die Sorge um Ernteausfälle treibt die Preise. Dazu kommt: Die Gaspreise sind, vor allem durch den Nahostkonflikt, just in der Hauptverarbeitungssaison wieder gestiegen, Rübenkochen ist wieder teurer, allerdings kein Vergleich zum Herbst 2022.

Da Zucker die Hauptzutat der meisten Süßwaren ist, dürfte man das an der Kasse spüren. „Wir müssen die Preise weiter erhöhen – zumindest 2024“, heißt es etwa vom Keks-Primus Bahlsen. Grund seien die höheren Preise für Zucker und Kakao. Die Hannoveraner Keksbäcker sind dabei nur einer von vielen.

Doch die aktuellen Streits zwischen Supermärkten und einigen Markenherstellern zeigen, dass nicht jede Preiserhöhung rohstoffbedingt ist. Schlussendlich kostet ein Kilo Zucker an der Börse auch heute nur rund 70 Cent.

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