„Notsituation nicht mehr begründbar“

von Redaktion

INTERVIEW Wirtschaftsweiser Werding über den Haushalt 2024 und mögliche Sparpotenziale

Der Wirtschaftsweise Martin Werding hat die Bundesregierung angesichts der historischen Finanzkrise vor dem Griff in die Rentenkassen gewarnt. Für Rentenanpassungen gebe es „langfristig gültige Regeln, die nicht zur kurzfristigen Haushaltssanierung außer Kraft gesetzt werden sollten“, sagte das Mitglied im Sachverständigenrat zu Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung. Im Interview erklärt Werding, wo die Regierung stattdessen ansetzen sollte.

Herr Werding, wo sehen Sie die größten Ansatzpunkte für den Bundeshaushalt im kommenden Jahr?

Ohne die Kredite der Sondervermögen fehlen im Bundeshaushalt 2024 circa 35 bis 60 Milliarden Euro. Viel davon entfiel auf eine Transformationsstrategie, die auf Transfers und Subventionen setzt und daher die öffentlichen Finanzen stark beansprucht. Es gibt Alternativen, nämlich Anreize über höhere CO2-Preise, die man durch Ausschüttung der Einnahmen abfedern kann.

Die Frage ist, wie schnell jetzt in diese Richtung umgesteuert werden kann.

Einen CO2-Preis haben wir schon, da muss man nur den Preispfad weiterentwickeln. Eine Ausschüttung an private Haushalte durch ein Klimageld soll ab nächstem Jahr technisch möglich sein. Für Unternehmen, die exportieren oder mit Importen konkurrieren, braucht man dann noch einen Grenzausgleich, das wird schwieriger.

Wegen der leeren Kassen stehen jetzt etliche Projekte auf dem Prüfstand. Dazu gehören auch die milliarden-schweren Förderungen für neue Halbleiter-Werke. So hat der Bund dem US-Konzern Intel knapp zehn Milliarden Euro für den geplanten Bau eines neuen Halbleiterwerks in Magdeburg in Aussicht gestellt.

Soweit hier schon verbindliche Zusagen bestehen, wird man die halten müssen. Ansonsten gehört das auf den Prüfstand. Von vornherein wurde bezweifelt, ob sich diese Subventionen lohnen, für den Bundeshaushalt oder für die betroffenen Regionen. Internationale Unternehmen haben auch andere, zum Beispiel geostrategische Gründe, warum sie in Deutschland investieren wollen.

Das Bürgergeld wird viel teurer als gedacht. Sehen Sie hier Einsparpotenzial?

Hier muss man die genauen Kostentreiber analysieren. Ein Gutteil der Mehrausgaben entfällt auf einen Inflationsausgleich beim Existenzminimum, der nächstes Jahr auch vorausschauend geleistet werden soll. Die Idee ist richtig, aber die genaue Berechnung kann man prüfen. Ein weiterer Teil entfällt auf eine schleppende Arbeitsmarktintegration der Bezieher. Das kann man beschleunigen, sowohl bei Deutschen als auch bei Geflüchteten, etwa aus der Ukraine.

Der mit Abstand größte Haushaltsposten sind die Zahlungen des Bundes an die Rentenkasse. Müssen die Rentenanpassungen 2024 und 2025 kleiner ausfallen als womöglich erhofft?

Für Rentenanpassungen gibt es langfristig gültige Regeln, die nicht zur kurzfristigen Haushaltssanierung außer Kraft gesetzt werden sollten. Die Rentenfinanzen stehen momentan gut da. Aber das kippt wegen der demografischen Alterung in den nächsten Jahren um. Wenn es im Rentensystem Reserven gibt, werden sie für die dort nötigen Reformen gebraucht, damit die Einschnitte nicht zu groß werden.

Muss die Schuldenbremse jetzt reformiert werden?

Bei ihrer Einführung 2009 war die Schuldenbremse ein wichtiges Stopp-Signal für die wachsende Staatsverschuldung. Sie hat uns sehr geholfen, dass der Schuldenstand jetzt wieder bei etwas über 60 Prozent des Bruttoinlandsprodukts liegt, trotz aller Krisen, und nicht bei über 110 Prozent wie in Frankreich.

Ökonomen, aber auch die SPD plädieren dafür, Investitionen bei der Berechnung der Schuldenbremse künftig auszunehmen.

Eine solche Regel hatten wir schon, vor 2009. Sie hat nicht funktioniert. Der Schuldenstand ist ständig gestiegen, und der Staat hat auch nicht mehr investiert als mit der Schuldenbremse. Die aktuellen Regeln kann man ändern, aber man sollte sie nicht abschaffen.

Wie könnte eine Reform konkret aussehen?

Eine schnelle Änderung kriegen wir sowieso nicht hin, da sollte man gründlicher nachdenken. Kollegen haben vorgeschlagen, nach einer Haushalts-Notlage einen kurzen Übergangszeitraum zu gewähren, bis die Bremse wieder voll bindet, damit Anpassungen der Haushaltsstruktur an neue Gegebenheiten möglich werden. Das ist diskussionswürdig, aber am Ende bleibt es bei sehr engen Verschuldungsspielräumen. Der Sachverständigenrat hat vor Einführung der Schuldenbremse für eine Regel plädiert, bei der Nettoinvestitionen dauerhaft kreditfinanziert werden dürfen, also Investitionen, die mehr sind als Ersatz für den Verschleiß der bestehenden Infrastruktur.

Was halten Sie davon, dem Bund mehr Spielraum zu verschaffen, etwa indem die Grenze von derzeit 0,35 Prozent auf 0,5 Prozent erhöht würde?

Das macht keinen Unterschied. Im Gespräch sind noch höhere Grenzen, etwa 1,5 Prozent, aber das verstößt gegen europäisches Recht. Am Ende sind solche Zahlen immer willkürlich. Auch einen Versuch, Transformations-Investitionen zu definieren und zu erlauben, halte ich für schwierig.

Die Bundesregierung will für den Haushalt 2024 offenbar erneut die Notfall-Klausel ziehen. Droht der Koalition hier der nächste Ärger in Karlsruhe?

Eine außergewöhnliche Notsituation durch Pandemie oder explodierende Energiepreise lässt sich für 2024 nicht mehr begründen. Zwar müsste erst jemand klagen, aber ein Verfassungsgerichtsbeschluss wie der aktuelle darf nicht noch einmal passieren. Was jetzt ansteht, sind Daueraufgaben in den Bereichen Verteidigung, Transformation und demografischer Wandel, auf die sich die Finanzpolitik ohne Notfall-Klausel einstellen muss.

Interview: Thomas Schmidtutz

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