München – Es ist wie so oft in diesem Mammutprozess. Ein Zeuge, der viel weiß und sagen könnte, erscheint nicht oder verweigert die Aussage. Diesmal ist es Frank Eckstein, der im Zeugenstand des Wirecard-Prozesses Platz nimmt. Er ist Rechtsanwalt des flüchtigen Wirecard-Topmanagers Jan Marsalek. Der fungiert als eine Art Fixpunkt im sonst von alternativen Realitäten geprägten Verfahren. Marsalek war führendes Mitglied einer Bande, die beim früheren Dax-Konzern einen Milliardenbetrug inszeniert hat. Das sagen alle Prozessbeteiligten in seltener Eintracht.
Der 63-jährige Eckstein dagegen sagt nur eines. „Ich muss Rücksprache halten mit meinem Mandanten.“ Dann verlässt er den Zeugenstuhl. Bei der Rücksprache geht es nicht etwa um Erlaubnis für umfassende Erklärungen, sondern darum, ob vor Gericht ein Brief Marsaleks verlesen werden darf, den Eckstein ausformuliert hat.
Noch vor Weihnachten werde er dazu vom Flüchtigen eine Antwort liefern, was nicht ohne Erkenntnisgewinn ist. Immerhin weiß man jetzt, dass Marsalek, der sich mutmaßlich nach Russland abgesetzt hat, noch lebt. Selbst das war zeitweise unklar.
Die andere Konstante des Betrugsprozesses neben der allseits anerkannten Schurkenrolle Marsaleks ist ein Zweikampf. Auf der einen Seite stehen Staatsanwälte und deren Kronzeuge. Das ist der ehemalige Wirecard-Topmanager Oliver Bellenhaus, der als Einziger eines angeklagten Trios seine Taten gestanden hat. Auf der anderen Seite üben mit dem früheren Wirecard-Chef Markus Braun und Ex-Chefbuchhalter Stefan E. die anderen beiden Angeklagten den Schulterschluss gegen den Kronzeugen, den sie einen Lügner nennen.
Insofern ist prozesstypisch, was nach Ecksteins Aussageverweigerung passiert. Erst werden Bellenhaus und seine Anwälte zu Anklägern gegen E. Der Chefbuchhalter gibt sich bis heute als unschuldiges Betrugsopfer von Bellenhaus. Davon, dass dieser Geschäfte in Asien im großen Stil frei erfunden hat, will er nichts gewusst haben. Bellenhaus glaut nun mit E-Mails beweisen zu können, dass E. nicht nur davon gewusst, sondern die Betrügereien sogar auf allzu offensichtliche Ungereimtheiten hin kontrolliert und deren Korrektur in Auftrag gegeben hat. Inwiefern der Vorsitzende Richter Markus Födisch, das als schlagenden Beweis für die Mittäterschaft von E. anerkennt, bleibt abzuwarten.
Danach schlägt die Stunde des Alfred Dierlamm. Der renommierte Strafverteidiger vertritt den Hauptangeklagten Braun. Dieses Gespann entwirft einen anderen Tathergang und auch eine alternative Besetzung der Wirecard-Betrügerbande. Demnach sind die Geschäfte nicht bloß erfunden worden. Es habe sie wirklich gegeben. Resultierende Erlöse seien aber trickreich an Wirecard vorbei auf Schattenfirmen gelenkt und so veruntreut worden. Bandenchefs waren demnach Marsalek und Bellenhaus. Braun habe von nichts gewusst und sei ein Opfer.
Diesmal nimmt Dierlamm die Staatsanwaltschaft aufs Korn, die sich zuvor kritisch mit Brauns Version der Wahrheit auseinandergesetzt hatte. Vollmundig, inhaltsleer und ohne Bezug zum Verfahren seien angebliche Beweise für dieses Tatvariante, hatten die Staatsanwälte erklärt. „Unzutreffend, nicht nachvollziehbar, verfälschend oder verwirrend“, seien die Argument der Staatsanwälte dazu, sagt nun Dierlamm. Die wahre Tatstruktur werde schlicht ignoriert. Geschäfte in Asien und daraus resultierende Erlöse habe es sehr wohl gegeben. Das Geld sei auch da, nur nicht auf den Konten, auf die Staatsanwälte blicken. Zwei Wahrheiten prallen aufeinander. Nur eine davon kann stimmen. Zu welcher Richter Födisch tendiert, lässt dieser bislang nicht klar erkennen. Als Braun vor Kurzem einmal wieder aus der seit dreieinhalb Jahren dauernden Untersuchungshaft entlassen werden wollte, widersprach das Gericht dem Antrag aber mit bemerkenswerter Begründung. Vorläufig vertrete die Kammer die Ansicht, dass Wirecard-Geschäfte nicht wie behauptet existiert haben. Hinsichtlich Braun bestehe weiter die Gefahr der Flucht und Manipulation von Beweisen. Weihnachtsfriede wird wohl nicht mehr einkehren im unterirdischen Verhandlungssaal der Münchner Justizvollzugsanstalt Stadelheim. Der Prozess geht in sein zweites Jahr. Ob das ausreicht, um ein Urteil zu finden, muss sich erweisen.