München/Berlin – Geht es um Regeln am Bau, ist Elisabeth Renner Expertin. Ihr Bauunternehmen Renner ist über 100 Jahre alt und hat unter anderem die Schrannenhalle am Münchner Viktualienmarkt saniert und den Rohbau für die FC Bayern Welt errichtet. Früher hätte sie für Bauprojekte in der Stadt einfach im Amt angerufen, wenn sie ein Kran aufstellen musste, erzählt Renner. „Das hat dann ein paar Tage gedauert.“ Heute brauche sie manchmal ein halbes Jahr, berichtet die Unternehmerin. „Und wenn wir für den Kran eine Straßenlampe abhängen müssen, muss das ein zertifizierter Lampenabhänger mit Sicherheitspersonal tun.“
Baustellensicherung, Verkehrsregelung, Umweltauflagen, Brandschutz, Arbeitsschutz, Statik, Bauordnungen, Denkmalschutz, energetische Vorgaben oder Lärm- und Staubschutz: Viele Regeln sind gut gemeint und adressieren Missstände. In ihrer Masse und Detailverliebtheit sind sie aber längst selbst zum Problem geworden. „Die Vorgaben tragen dazu bei, dass Bauen immer teurer wird“, meint Renner. Und nicht nur am Bau, wo sich Unternehmen seit Kurzem auch darum kümmern sollen, welche Seifen auf den Toiletten liegen oder ob ihre Mitarbeiter mit Sonnencreme eingeschmiert sind, wird die Bürokratie zur Last.
Auch in anderen Branchen schimpfen Firmen, dass der heilige Bürokratius ihnen Zeit, Geld und Energie und oft den letzten Nerv raubt. Welchen Umfang die Regelungswut angenommen hat, zeigt eine aktuelle Auswertung der Bundesregierung. Demnach galten Anfang 2014 in Deutschland 1671 Gesetze und 44 216 Einzelnormen. Doch das war offenbar noch nicht genug. Nun sind es 1792 Gesetze mit 52 155 Einzelnormen. Obwohl Politiker aller Parteien beteuern, dass sie Regeln abbauen wollen, hat der Bundestag in den letzten zehn Jahren also 121 zusätzliche Gesetze samt 7939 Normen verabschiedet. Daneben wuchs die Zahl der Rechtsverordnungen, mit denen die Exekutive Details regelt, von 2720 auf 2854. Den Verordnungen sind heute weitere 44 272 Normen zugeordnet, 6080 mehr als 2014.
Diese Flut an Vorgaben kommt Deutschland teuer zu stehen. Laut Normenkontrollrat führen neue Regeln mittlerweile zu Folgekosten von mehr als 25 Milliarden Euro im Jahr, gut fünf mal so viel noch wie vor zehn Jahren. Zwar leidet auch die Verwaltung selbst unter der Flut an Vorgaben, den Löwenanteil trägt mit 13 Milliarden Euro pro Jahr aber die Wirtschaft. Kein Wunder also, dass sie zunehmend sauer ist.
„Die Bürokratie ist der größte Bremsklotz für die bayerische Wirtschaft, vor allem für Selbstständige und den Mittelstand“, ist sich Manfred Gößl, Hauptgeschäftsführer der Industrie- und Handelskammer für München und Oberbayern, sicher. Denn anders als Großkonzerne können gerade die kleinen Firmen kein zusätzliches Personal einstellen, um die wachsende Papierflut zu bewältigen. Ihnen bleibt deshalb meist nur, abends die Berge auf dem Schreibtisch abzuarbeiten – was sich oft als nervige Fleißarbeit zur eigentlichen Arbeit summiert. Die Folge: „Überbordende Bürokratie löst vor allem Gefühle der Wut, des Zorns und der Aggression, aber auch der Ohnmacht, der Überforderung und der Angst aus“, berichtet IHK-Chef Gößl.
Aggression und Angst: Das mag übertrieben klingen. Doch die IHK verweist auf eine Umfrage des Instituts für Mittelstandsforschung vom Herbst 2023. Dort gaben drei Viertel der mehr als 1000 befragten Firmen an, schlechte Erfahrungen mit Bürokratie gemacht zu haben. Die Hälfte macht das nach eigenen Angaben tatsächlich wütend oder aggressiv. Ebenfalls knapp die Hälfte fürchtet, dass ihre Wettbewerbsfähigkeit leidet. Durch die Bürokratie werde sich „die Freude an unternehmerischer Tätigkeit weiter verringern“, bilanziert die Studie. So „wird ein Faktor nachhaltig beschädigt, der für Unternehmerinnen und Unternehmer wesentlich ist: Selbstverwirklichung, Kreativität, das Nutzen von Freiräumen und die Übernahme von Verantwortung.“
Doch wo kann die Politik ansetzen, um zu helfen? Auch hier gibt die Umfrage Hinweise. So gaben zwei Drittel der Befragten an, dass sie sich spürbar geringere Berichts- und Dokumentationspflichten wünschen. Gut die Hälfte sagte, dass Anträge und Genehmigungsverfahren schneller ablaufen müssen und die Verwaltung endlich konsequent digitalisiert werden muss. Es ist also nicht nur die Regelungswut, sondern auch der Amtsschimmel, der häufig immer noch mit Lochern und Faxgerät regiert. Auch in Berlin hat man das registriert – und gelobt Besserung.
So hat der Bund bereits Verbände befragt, wo es Verbesserungsbedarf in Sachen Bürokratie gibt. Ergebnis: Ein 700 Seiten dickes Sammelsurium mit teils absurden Bürokratiebeispielen. „Wir haben eine ziemlich hohe Regulierungsdichte“, räumt Sonja Eichwede ein, die Sprecherin der SPD-Bundestagsfraktion. Und ein Sprecher des FDP-geführten Justizministeriums bekräftigt, Ziel sei es, die Auflagenflut einzudämmen, indem „wir die Rechtsetzung einfacher und verständlicher machen“. Doch selbst für den Bürokratieabbau sei nunmal ein Gesetz nötig, gibt er dann zu bedenken.
Die Wirtschaft will jedenfalls Fortschritte sehen. „Es muss sich endlich etwas tun“, fordert Bauunternehmerin Elisabeth Renner. Und sie glaubt, dass dazu sei vermutlich auch gar keine komplizierte Gesetzesinitiative nötig ist. „Es braucht ein Umdenken, die Behörden dürfen sich nicht mehr als Gegner der Unternehmen sehen“, sagt die Münchnerin, die gerne Klartext spricht. „Wir wollen wieder mehr Verantwortung übernehmen und brauchen dafür in den Ämtern Partner und keine zertifizierten Nasenbohrer“, so Renner. Passiere nichts, sei das fatal: „Dann regulieren wir uns zu Tode.“ Mit Material von dpa
Tausende neue Regeln seit 2014
Wut und Ohnmacht bei Unternehmen
Der Bund will gegensteuern