München – Ohnehin war der Wirecard-Skandal um Jan Marsalek schon ein Krimi: Ein Schulabbrecher ohne Abitur, fit im Programmieren, macht aus einem kleinen Start-up einen Dax-Konzern – und ist nun einer der meistgesuchten Männer Europas, nachdem sich sein Erfolg als großer Schwindel herausgestellt hat. Doch offenbar haben Marsaleks kriminelle Aktivitäten ein noch viel größeres Ausmaß: Der Österreicher soll jahrelang für den Kreml spioniert haben und sogar russische Söldner über Wirecard bezahlt haben.
Seit mehr als drei Jahren ist der frühere Chef des Finanzdienstleisters aus Aschheim untergetaucht. Schon lange wird vermutet, dass sich Marsalek in Russland versteckt haben könnte. Recherchen von „ZDF frontal“, dem „Spiegel“, des österreichischen „Standard“ und der russischen Investigativplattform „The Insider“ enthüllen nun: Seit September 2020 hat Marsalek die Identität eines russisch-orthodoxen Priesters angenommen, der ihm verblüffend ähnlich sehen soll. Demnach wies sich Marsalek auf der Krim mit dem Pass von Konstantin Bajazow aus.
Eine wichtige Schlüsselrolle für Marsaleks Verbindungen nach Russland spielt seine russische Geliebte Natalja Slobina. Sie soll nicht nur Erotikmodel gewesen sein, sondern auch einen engen Draht zu russischen Geheimdiensten gehabt haben.
Im Sommer 2014 stellte sie ihm Stanislaw Petlinski vor, der fürs russische Präsidial-amt gearbeitet hat – und den westliche Agenten als „verlängerten Arm russischer Geheimdienste“ betrachten, wie der „Spiegel“ berichtet.
Die Reporter haben ihn erst vor wenigen Wochen in einem Luxushotel in Dubai abgefangen. Dort habe Petlinski sich selbst als „Sicherheitsberater“ bezeichnet und zugegeben, dass er Marsalek mit „vielen Entscheidungsträgern“ in Russland bekannt gemacht habe.
Auf die Frage, ob Marsalek für die russischen Geheimdienste gearbeitet hat, sagte er: Nein – dafür soll er aber „besessen von der Spionagewelt“ gewesen sein. Wie vertrauenswürdig seine Aussagen sind, bleibt allerdings offen.
Petlinski hat Marsalek unter anderem Anatolij Karasi vorgestellt, einem bulligen Mann in Rocker-Kleidung – und ein wichtiger Funktionär bei den Wagner-Söldnern. Karasi soll im Mai 2017 von Moskau nach München geflogen sein, um Marsalek zu treffen. Dann seien sie weiter mit einem Privatjet nach Beirut im Libanon geflogen, um dort auch Petlinski zu treffen. Petlinski zufolge seien die drei danach auch in Syrien unterwegs gewesen, wo zu dem Zeitpunkt Wagner-Söldner gegen Dschihadisten gekämpft haben. Fotos zeigen Marsalek mit Sturmgewehr und schusssicherer Weste in dem Kriegsgebiet. Zudem investierte Marsalek in die russische Söldnerfirma RSB, die später in Libyen eingesetzt wurde.
Petlinski habe Marsalek oft in seinem Büro in der Prinzregentenstraße 61 in München getroffen – eine vierstöckige Villa gegenüber vom russischen Generalkonsulat. Auch der Österreicher Martin Weiss, der jahrelang für den damaligen österreichischen Verfassungsschutz BVT gearbeitet hatte, ging dort ein und aus. Marsalek heuerte ihn als „Berater“ an, nachdem Weiss den Verfassungsschutz offiziell verlassen hatte. Ihm wird nun vorgeworfen, für Marsalek in Europa spioniert zu haben.
Bis heute ist unklar, wo sich Marsalek aufhält. Petlinski vermutet: „Wahrscheinlich irgendwo, wo es nett ist.“