Gleichstromkabel sollen Süd- und Norddeutschland verbinden. © Roland Weihrauch, dpa
Die bayerische Wirtschaft fürchtet noch höhere Strompreise. Der Grund ist ein laufendes Marktverfahren der EU-Behörde Acer. Der Anlass: In Deutschland herrscht im Norden wie im Süden derselbe Strompreis am Markt. In der Realität gibt es aber ein enormes Gefälle zwischen den Regionen. Ökonomen und Wettbewerbshüter wollen die dadurch entstehenden Marktverzerrungen am liebsten beheben. Die bayerische Industrie fürchtet deshalb höhere Strompreise und setzt auf neue Leitungen.
■ Hintergrund
1998 wurde in Deutschland eine Vielzahl kleiner Gebietsmonopole zu einem großen Strommarkt mit einem einheitlichen Börsenstrompreis zusammengefasst. Das bedeutet: Verbraucher und Stromhändler können Energie unabhängig vom Abnahme- und Erzeugungsort kaufen. Angebot und Nachfrage pro Viertelstunde bestimmen den Preis. Falls vorhanden, wird die Nachfrage immer zuerst mit Solar- und Windstrom gedeckt. Beide haben keine Brennstoffkosten, drängen also immer andere Kraftwerke aus dem Markt. Strom ist dann tendenziell günstiger. Preissensible Verbraucher wie Pumpspeicherwerke, E-Autos und Wasserstoffelektrolyseure nehmen zu diesen Zeiten mehr Strom ab. Übersteigt die Nachfrage das Angebot, treten teurere Kraftwerke in den Markt ein, oft mit Gas betrieben. Der Börsenstrompreis steigt, und preissensible Verbraucher nehmen weniger ab. Sind die Preise hoch, speisen auch Pump- und Batteriespeicher den vorher günstig gekauften Strom wieder ins Netz.
■ Das Problem
Durch den Ausbau der Erneuerbaren und den Ausstieg aus Kern- und Kohlekraft ist in Deutschland ein Gefälle entstanden. Während im Süden viel energieintensive Industrie sitzt, produziert der Norden immer öfter Windkraftüberschüsse, gleichzeitig kommen hier günstige Importe aus Skandinavien an. Um das Gefälle ein Stück weit auszugleichen, bräuchte es Hochspannungs-Gleichstromleitungen, die Strom verlustarm über hunderte Kilometer transportieren können. Eine der für Bayern wichtigsten – der Suedostlink – hätte bereits 2022 zum geplanten Atomausstieg stehen sollen. Vor allem 2014 hatten sich aber der heutige bayerische Wirtschaftsminister Hubert Aiwanger (FW) und der ehemalige Ministerpräsident Horst Seehofer (CSU) gegen die von ihnen so genannten „Monstertrassen“ eingesetzt und gefordert, dass diese nicht als Freileitung, sondern als Erdkabel verlegt werden. Dadurch werden die Leitungen frühestens 2027 in Betrieb gehen.
■ Die Folgen
Der Markt funktioniert nicht richtig. Denn die Frage, welches Kraftwerk die aktuelle Nachfrage deckt, wird an der Strombörse derzeit „vor dem Netz“ verhandelt. Die Frage, ob der Strom seinen Abnehmer physisch überhaupt erreichen kann, wird nicht gestellt. In einem Aufsatz, der kürzlich in der „FAZ“ erschien, haben mehrere prominente Ökonomen, darunter Karen Pittel vom ifo-Institut, das Problem so beschrieben: Oft produzieren norddeutsche Windparks genug Strom, um Nachfrage in Norddeutschland und Bayern zu decken. Weil die Nachfrage auf dem Papier gedeckt ist, sinken die Börsenpreise. Doch oft kann der Strom nicht in den Süden transportiert werden. Und weil entsprechende Preissignale fehlen „stehen die Gaskraftwerke in Bayern still, sodass die lokale Stromnachfrage nicht gedeckt werden kann“, schreiben die Ökonomen. Damit begännen die Probleme aber erst: „Pumpspeicherkraftwerke im Schwarzwald pumpen trotz Stromknappheit in Süddeutschland Wasser in die Berge, und intelligente E-Autos in Stuttgart laden ihre Batterien auf, weil der für sie sichtbare Strompreis niedrig ist – in Wirklichkeit erreicht der günstige Windstrom Baden-Württemberg jedoch gar nicht.“ Was der Markt nicht regelt, müssen die Netzbetreiber durch den „Redispatch“ reparieren: „Kraftwerke im Süden werden auf Anordnung hochgefahren, Windparks in der Nordsee abgeregelt. Die einen bekommen für die Produktion mehr Geld als den einheitlichen Strompreis, die anderen bekommen Geld dafür, dass sie nichts mehr produzieren.“ Das Problem: Die Kosten für den Redispatch erscheinen nicht am Markt, sondern werden auf die Netzentgelte umgelegt. Damit wird Strom teurer, es entsteht aber keine Steuerungswirkung. Um diese Verzerrung abzubauen, könnte die EU Deutschland in mehrere Preiszonen einteilen. Viele Ökonomen unterstützen das.
■ Sicht der Wirtschaft
Eine sehr breite Front aus Gewerkschaften, Verbänden und Arbeitgebern ist dagegen für den Einheitspreis: „Eine Teilung der deutschen Strompreiszone würde für die bayerische Wirtschaft höhere Kosten bedeuten und die Standortbedingungen verschlechtern“, so etwa Manfred Gößl, Chef des bayerischen Industrie- und Handelskammertages. Außerdem sei das Prüfverfahren methodisch fragwürdig, weil es den laufenden Netzausbau nicht berücksichtige. In der Tat geht beim Netzausbau inzwischen viel voran. Die Ampel-Regierung hat einige Beschleunigungsgesetze erlassen, allein für Bayern sollen vor 2030 mindestens vier Gigawatt Übertragungsleistung nach Norden stehen. Auch die Windindustrie fürchtet bei einer Teilung um ihre Kundschaft: „Wir haben ein Interesse daran, dass Deutschland ein starkes Industrieland bleibt, damit unser grüner Strom auch gebraucht wird“, so Windkraft-Verbandschef Wolfram Axthelm. Das Prüfverfahren, das eigentlich im Frühjahr hätte abgeschlossen sein sollen, läuft bis heute.