INTERVIEW

„AfD-Wähler leiden unter AfD-Politik“

von Redaktion

Ökonom Marcel Fratzscher über die Zukunft der Wirtschaft in Ostdeutschland

Wahl verloren: Die SPD hat in Sachsen kräftig an Stimmen eingebüßt. Massiv zugelegt haben dagegen die AfD (30,6 Prozent der Stimmen) und das BSW (11,8 Prozent). In Thüringen war die AfD mit 32,8 Prozent der Stimmen sogar stärkste Kraft. © Jan Woitas

München – Er ist Ökonom und fällt auf mit steilen Thesen: Marcel Fratzscher, Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin. Kaum waren am Sonntag die Wahllokale in Thüringen und Sachsen geschlossen, prophezeite er den Bundesländern einen „Exodus von Unternehmen“. Als Grund nannte er die AfD. Aber sind die Zusammenhänge wirklich so einfach? Wir haben nachgefragt.

Angesichts des Wahlerfolgs von AfD und BSW in Thüringen und Sachsen gehen Sie davon aus, dass Fachkräfte die beiden Bundesländer verlassen werden. Die Folge wäre ein Exodus von Unternehmen. Haben Sie für diese These einen wissenschaftlichen Beleg oder ist das einfach nur ein Bauchgefühl?

Zumindest gibt es Hinweise aus der Wissenschaft, dass es diesen Zusammenhang gibt. Wir haben im Juli eine Studie veröffentlicht, die ganz klar zeigt: Der Grund für die Stärke der AfD – übrigens auch des BSW – ist die Demografie.

Das heißt?

Dort wo junge gut qualifizierte Menschen abwandern, ist der Stimmanteil der AfD besonders hoch.

Ziehen die jungen qualifizierten Menschen weg, weil die AfD so stark ist? Oder ziehen die jungen Menschen einfach so weg, weil es woanders bessere berufliche Chancen gibt, und zurück bleiben die AfD-Wähler?

Sie haben natürlich Recht, denkbar ist eine Kausalität in beide Richtungen. Wir können in unserer Studie nicht sagen, dass die jungen Menschen deshalb ihre Region verlassen, weil sie nicht mehr in einer AfD-Hochburg leben wollen. Wir sehen lediglich: Die, die zurückbleiben, wählen die AfD. Und daraus ergibt sich die Frage: Welche Folgen hat dieser hohe AfD-Anteil? Führt der zu einer weiteren Abwanderung von Menschen und in der Folge von Unternehmen? Und hier gibt es andere wissenschaftliche Studien, die einen solchen Zusammenhang nahelegen. Dann gibt es neben der Wissenschaft Berichte von Unternehmern, die das bestätigen.

Was sagen die Unternehmer?

Die sagen, dass sie in AfD-Hochburgen keine Zukunft mehr sehen. Erstens, weil ihnen die jungen, gut qualifizierten Menschen fehlen. Zweitens, weil sie ihren Betrieb nicht in einer Region haben möchten, die geprägt ist von Fremdenfeindlichkeit, von fehlender Wertschätzung und mangelnder Vielfalt. Es geht nicht nur darum, dass in diese Gegenden keine Menschen mit Migrationshintergrund hinziehen möchten. Der viel wichtigere Punkt ist: In diese Regionen möchten auch keine Deutschen ziehen. Auch Unternehmensvereinigungen in Ostdeutschland und der BDI haben Hinweise auf dieses Phänomen.

Die IHK Chemnitz und die IHK Dresden haben dagegen Ihrer These widersprochen, wonach es durch die AfD zu einer Abwanderung von Unternehmen kommen könnte.

Naja, es ist nun einmal der Job einer Kammer, ihre Region attraktiv darzustellen. Die Zahlen und Fakten sagen etwas anderes.

Aber können Sie sich ernsthaft vorstellen, dass BMW wegen der AfD nun Leipzig verlassen könnte? BMW investiert in Ungarn, das von Viktor Orbán regiert wird, auch er kein Freund von Zuwanderung und Offenheit. Investitionsentscheidungen hängen doch von vielen Faktoren ab.

Natürlich. Regulierung, Bürokratie, das sind alles Standortfaktoren. Der Vergleich mit Ungarn hinkt aber: Dort haben wir ja nicht das Phänomen, dass die Politik – anders als die AfD in Ostdeutschland – die Abwanderung und damit den Arbeitskräftemangel verschärft.

Ist die Frage nach Arbeitskräften bei einer Investition so wichtig?

Ja. Der Mangel an Arbeitskräften wird in den kommenden zehn Jahren das zentrale Problem überhaupt sein – und zwar in ganz Deutschland. Wir haben schon heute 1,7 bis 1,8 Millionen offene Stellen – und das sind nicht nur die hochqualifizierten Ingenieurinnen und Ingenieure. In der Landwirtschaft, auf dem Bau, im Einzelhandel, überall wird das Personal knapp. Deutschlandweit werden wir in den kommenden zehn Jahren fünf Millionen Menschen netto aus dem Arbeitsmarkt ausscheiden, weil die Babyboomer in Rente gehen. Hinzu kommt, dass immer mehr Menschen vom Land in die Städte ziehen.

Was ist die Konsequenz?

Dass die großen Leidtragenden in Zukunft vor allem Regionen mit einem Bevölkerungsrückgang sind – die Verlierer sind also Thüringen, Sachsen und Sachsen-Anhalt, vor allem auf dem Land. Bis 2045 werden wir in Ostdeutschland – außer in Berlin und in Teilen Brandenburgs – ein Schrumpfen der Bevölkerung von zehn Prozent, in einigen Regionen sogar von 20 Prozent beobachten, also genau dort, wo die AfD stark ist. Wachsen wird die Bevölkerung lediglich in Städten wie Leipzig, Dresden und Jena, aber das sind kleine Punkte auf der Landkarte. Für den Rest gilt: Junge Menschen wandern ab, Schulen schließen, Geschäfte sperren zu, die Kneipen machen dicht, der öffentliche Nahverkehr wird ausgedünnt, die Ärzte fehlen, die Abwanderung beschleunigt sich, die Firmen ziehen weg.

Schenkt man Ihrer These Glauben, haben sich die Wähler mit ihrer Stimme für die AfD ihr eigenes Grab geschaufelt.

Genau so ist es. Zumindest ökonomisch gesehen habe sich die AfD-Wähler ihr eigenes Grab geschaufelt. Aus objektiver Perspektive werden die Leute unter der AfD-Politik noch mehr leiden, als sie es jetzt schon tun. Gerade für Menschen mit geringerer Qualifikation auf dem Land wird sich die Situation wirtschaftlich weiter verschärfen. Die AfD steht nun einmal für eine neoliberale Wirtschafts- und Finanzpolitik.

Was bedeutet das?

Die AfD fordert in ihren Programmen: Steuern senken für Spitzenverdiener, die Erbschaftsteuer komplett abschaffen – obwohl der Großteil des Erbschaftsteueraufkommen in Westdeutschland generiert wird. Hinzu kommt die Forderung nach einem Austritt aus der EU oder dem Euro, eine Abschottungspolitik und weniger Staat – wodurch es weniger Fördergelder in den strukturschwachen ostdeutschen Regionen geben wird. In Cottbus versuchen Bund und Land, mit Milliarden die Folgen des Kohleausstiegs abzufedern, aber das lehnt die AfD ab. Ich nenne das das AfD-Paradox: Die AfD-Wähler werden unter der AfD-Politik besonders stark leiden.

Gibt es trotzdem etwas, was Ihnen Hoffnung macht?

(langes Schweigen) Ein großer Teil der Verantwortung liegt jetzt bei den demokratischen Parteien. Der zweite wichtige Punkt: Man muss aktive Standortpolitik betreiben, dazu zählt auch eine gute Infrastrukturpolitik. Es wird gerne gesagt, man braucht nicht an jeder Milchkanne schnelles Internet, aber ich sage ganz klar: Genau das brauchen wir! Und der dritte Punkt ist: Wir brauchen ein ehrliches Erwartungsmanagement. Die Politik muss zugeben, dass sie nicht alle Probleme lösen kann. Wenn Olaf Scholz sagt, „You‘ll never walk alone“, suggeriert er: Der Staat kümmert sich um alles. Aber das schafft eine falsche Erwartungshaltung. Die Handlungsmöglichkeiten des Staates in einer sozialen Marktwirtschaft sind begrenzt. Unternehmen und der Zivilgesellschaft kommen große Verantwortung zu. Auch dieses Eingeständnis und diese Ehrlichkeit gehören in einer Demokratie dazu. Interview: Sebastian Hölzle

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