Firmenchefs fühlen sich von Berichts- und Dokumentationspflichten überfordert. Vor allem kleine und mittelständische Betriebe leiden unter dem Aufwand für Bürokratie. © Arne Dedert, dpa
München – Teure Energie und fehlende Fachkräfte galten in der Wirtschaft lange als Hauptprobleme für Unternehmen. Mittlerweile hat sich ein drittes Thema an die Spitze der bei Umfragen genannten Übel gestellt: Die Bürokratie. Wir sprachen darüber mit dem Hauptgeschäftsführer der Industrie- und Handelskammer für München und Oberbayern, Manfred Gößl.
Wie viel Zeit kostet die Bürokratie einen durchschnittlichen Betrieb?
Der durchschnittliche Betrieb hat weniger als 20 Beschäftigte – und das sind 90 Prozent aller Unternehmen. Im Schnitt sind es zehn bis 15 Stunden pro Woche, die sie für Bürokratie aufwenden müssen. Und da sprechen wir nur von Berichts-, Informations- und Dokumentationspflichten sowie der Datenschutzverordnung. Dinge wie Steuer und Lohnbuchhaltung kommen da noch obendrauf.
Eine ganze Menge. Woher wissen Sie das so genau?
Es gibt mehrere sehr fundierte Umfragen und Studien zu dem Thema. Eine DIHK-Studie hat zum Beispiel das Gastgewerbe genauer untersucht. Alleine da waren es durchschnittlich 14 Stunden pro Woche, um über 100 Vorschriften zu erfüllen. Das sind valide Zahlen. Das Schlimme ist aber, die Anforderungen und die Belastungen für die Betriebe werden immer größer.
Warum ist das so? Welche neuen Regularien sind dazugekommen?
Ein dicker Brocken und ein riesiges Ärgernis ist die Pflicht zur Arbeitszeiterfassung, die der Schwarzarbeit vorbeugen soll, die aber vom Unternehmen verlangt, minutiös zu dokumentieren, wann jeder Minijobber seinen Dienst antritt, wann er in die Pause geht und wann in den Feierabend. In elf Branchen, wie Bau, Gastgewerbe, Spedition oder Gebäudereinigung, gilt das sogar für alle Beschäftigten.
Genügt es nicht festzuhalten, wie lange jemand am Tag gearbeitet hat?
Laut Gesetz: Nein. Und die Dokumentation müssen Sie nicht einmal im Monat machen, sondern jede einzelne Woche! Nächster Hammer war die Datenschutzgrundverordnung, dann die Taxonomie, also Vorgaben für Banken, die von ihren Kunden den Status quo und die Transformationspläne in Richtung Klimaschutz erfragen und erfassen müssen. Und dann noch das deutsche Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz – von dem die Politik behauptet, dass es nur große Konzerne trifft.
Stimmt das nicht?
Nein. Das Gesetz an sich gilt zwar unmittelbar nur für Unternehmen ab 1000 Mitarbeiter. Aber es kommt – wie leicht vorhersehbar war – natürlich zu Kaskaden-Effekten.
Das heißt?
Ein großes Unternehmen kann seine Lieferkette nicht dokumentieren, ohne seine – oft kleineren – Zulieferer zu befragen. Der bekommt dann plötzlich ein Formular mit dutzenden Seiten, auf dem er im Detail die Herkunft aller seiner Produkte bis zur Quelle nachweisen soll. Das gilt für Schrauben, die er vielleicht in der Ukraine gekauft hat, oder für Klebstoffe aus Südkorea. Wie soll denn der kleine Mittelständler nachvollziehen, woher das Eisenerz für den Stahl und die Rohstoffe für den Kleber kommen? Da verlangt man von den kleinen Firmen etwas, das sie gar nicht nachweisen können. Das empfinden auch die Firmenchefs so, die können das einfach nicht leisten.
Was passiert dann in der Praxis?
Es gibt zwei Optionen, wie das in der Praxis dann abläuft. Option eins ist, der Großbetrieb akzeptiert es einfach. Oder es kommt zur zweiten Option: Entweder du bestätigst, dass deine Lieferkette frei von Kinderarbeit und Umweltschäden ist oder wir können dich nicht mehr beauftragen. Was macht man da? Man hat einen großen Auftraggeber weniger und muss vielleicht Stellen abbauen oder man setzt halt seine Unterschrift unter ein Formular und versichert etwas, das man mit letzter Sicherheit gar nicht garantieren kann. Der Gesetzgeber hat mit dem Gesetz die Verantwortlichen in den kleinen Betrieben wirklich einem Dilemma ausgesetzt. Ebenso bei den Nachhaltigkeitsberichten. Über 1000 Datenpunkte, die man offenlegen muss. Das gleiche Problem: Wie kommt man an die Informationen, in welcher Haftung steht der Firmenchef?
Wie reagieren die Unternehmer?
Zunehmend mit Wut und Aggressivität, aber auch mit einem Gefühl der Überforderung und der Ohnmacht. Auch das zeigen Umfragen. Der sogenannte Wut-Unternehmer wurde durch überbordende Bürokratie erzeugt. Deshalb war die Auseinandersetzung um den Agrardiesel auch so explosiv. Das war der Tropfen, der branchenübergreifend im Mittelstand das Fass zum Überlaufen gebracht hat.
Eigentlich geht es dem Gesetzgeber ja um begrüßenswerte Ziele, gegen Kinderarbeit und Umweltzerstörung, gegen Schwarzarbeit. Warum läuft trotzdem alles so aus dem Ruder?
Natürlich stehen wir auch hinter diesen Zielen. Die Grenze zwischen notwendigen Regeln und überzogener Bürokratie sind fließend. Ganz klar: Wir brauchen Regeln des Miteinanders. Aber seit Jahren werden die Gesetze und Rechtsverordnungen immer mehr, immer aufwendiger und immer komplexer. Die Kosten der Bürokratie steigen entsprechend: Laut dem Nationalen Normenkontrollrat kosten sie heuer 65 Milliarden Euro allein für die Wirtschaft. Da sind die Kosten für die Kontrolle durch die öffentliche Verwaltung noch gar nicht eingerechnet.
Seit wann fühlen sich die Unternehmen so überfordert?
Die Bürokratie steht branchenübergreifend seit Anfang 2023 an erster Stelle der wirtschaftspolitischen Belastungen für den Mittelstand. Noch vor dem Fachkräftemangel und den hohen Energiepreisen. Das ergeben unisono Umfragen und Studien. Und die Verantwortlichen dafür sehen die Betriebe in erster Linie in Brüssel und Berlin. Nachweislich nimmt die Zahl der Gesetze und Verordnungen Jahr für Jahr zu. Und die Zahl der Beschäftigten im öffentlichen Dienst in Deutschland ist zwischen 2012 und 2022 um 14 Prozent oder besser gesagt um mehr als 580 000 Menschen gewachsen. Wir schaffen hier eine Spirale von Regeln und Kontrollen, die dazu führt, dass Unternehmer uns sagen: So geht das nicht mehr, wir können nicht mehr, uns reicht es.
Übertreibt man es in Deutschland mit den Regularien besonders gern?
Das ist offensichtlich. Die deutsche Politik setzt auf einen sehr stark regulativen Ansatz, der unnötig hohe Kosten verursacht. Andere Länder erzielen mit einem geringeren Ressourcen-Einsatz ein besseres Ergebnis. Das ist nicht aus der Luft gegriffen, sondern das Ergebnis einer Studie zu den Bürokratielasten im internationalen Vergleich.
Wieso ist das in Deutschland so? Misstraut hier die Politik der Wirtschaft stärker als anderswo?
Wir haben eine ausgeprägte Scheu vorm Risiko. Wir probieren zum Beispiel Künstliche Intelligenz nicht erst mal aus und regulieren dann, wo es sich als nötig erweist, sondern regulieren gleich mal vorab alle Eventualitäten. Zweiter wichtiger Punkt ist das Streben nach Einzelfall-Gerechtigkeit, die ist bei uns offenbar besonders groß. Deshalb ist auch unser Steuersystem so kompliziert. Nur langsam setzt sich die Erkenntnis durch, dass auch wir stärker mit Typisierungen und Pauschalierungen arbeiten müssen.
Was würde sich dadurch ändern?
Dann wäre es zum Beispiel möglich, dass die meisten Steuerzahler keine Steuererklärung mehr abgeben müssten. Mehr als die Hälfte der Steuerrückerstattungen liegen unter 1000 Euro. Warum nicht einfach den Arbeitnehmerpauschbetrag, der aktuell bei 1230 Euro liegt, verdoppeln und dafür das Personal in den Finanzämtern effektiver einsetzen? Dann hat vielleicht der eine ein bisschen mehr und der andere ein bisschen weniger als bisher. Aber alle hätten sich die Zeit und den Aufwand für die Steuererklärung gespart. Und das Personal in den Finanzämtern könnte man auch sehr viel wirtschaftlicher einsetzen, beispielsweise Betriebsprüfungen beschleunigen.
Was sollte gesetzlich geregelt werden und was der Wirtschaft überlassen?
Das kann man so pauschal nicht beantworten. Aber ich zitiere da gerne den großen Aufklärer und Staatsrechtler Montesquieu, der den berühmten Satz gesagt hat: „Wenn es nicht unbedingt notwendig ist, ein Gesetz zu erlassen, dann ist es unbedingt notwendig, kein Gesetz zu erlassen.“ Ein Rechts- staat, der neue Gesetze am laufenden Band produziert, ist jedenfalls in der falschen Richtung unterwegs und das gefährdet am Ende mit dieser Überregulierung sogar unsere Demokratie.
Wenn Sie sich drei Dinge wünschen könnten, die man sofort abschaffen könnte, was würden Sie wählen?
Lieber wären mir 30 Dinge, aber die Bürokratie-Monster aus Brüssel wie Taxonomie, Lieferkettengesetz, Nachhaltigkeitsberichtspflichten oder die Medizinprodukteverordnung lassen sich nicht von heute auf morgen radikal vereinfachen oder gar abschaffen. Aber, einverstanden. Fangen wir mit vermeintlichen Kleinigkeiten an. Erstens: Jeder Arbeitgeber muss de facto halbjährlich den Führerschein eines jeden Mitarbeiters prüfen, der ein Firmenfahrzeug fährt. Warum? Warum ist es nicht die Verantwortung des Mitarbeiters, nur dann zu fahren, wenn er auch wirklich eine gültige Fahrerlaubnis hat? Zweiter Punkt: Jeder Arbeitgeber muss wöchentlich die Arbeitszeit eines jeden Minijobbers dokumentieren, und zwar nicht einfach: hat jeden Tag sieben Stunden gearbeitet, sondern hat um 8.15 Uhr angefangen, von 12 Uhr bis 12.45 Uhr Mittag und dann um 17 Uhr Feierabend gemacht. Wenn man diese Dokumentation vereinfachen und von wöchentlich auf monatlich umstellen würde, wäre das schon eine Riesen-Erleichterung.
Und der dritte Wunsch?
Ein Wunsch aus der Gastronomie: Die Abschaffung der Kennzeichnungspflicht von Allergenen auf den Speisekarten. Ein Allergiker, der in einem Gasthaus bestellt, wird doch sowieso den Wirt fragen, ob diese oder jene Zutat in einem Gericht enthalten ist. Dann könnten die Wirte ihre Speisekarten auch wieder flexibler gestalten. Und ganz grundsätzlich ist ein Wunsch aus der Wirtschaft: Für den Gesetzgeber muss gelten, dass man EU-Regelungen 1:1 umsetzt und nicht noch eins obendrauf packt – wie man das bei uns gerne macht. Das widerspricht dem Binnenmarkt, durch den ja gerade sichergestellt werden soll, dass in allen Mitgliedsländern die gleichen Regeln gelten. Überregulierung torpediert dieses Prinzip.