Firmenaufgaben und Insolvenzen wird man in Zukunft wieder öfter sehen, sagt Creditreform-Experte Philipp Ganzmüller. Seit Jahresbeginn gab es allein in Bayern schon mehr als 2900 Pleiten. © Ute Grabowsky/Imago
München – Fast keine Institution hat so tiefen Einblick in die Finanzsituation von Firmen wie Creditreform: Das Unternehmen treibt als Inkasso-Dienstleister ausstehende Zahlungen bei säumigen Schuldnern ein und arbeitet zugleich als Auskunftei für Gewerbekunden. Gut acht von zehn Anfragen über die Zahlungsfähigkeit von Unternehmen sollen in Deutschland über Creditreform laufen, der Dienstleister ist eine Art Schufa für die Wirtschaft. Doch wie steht es um Bayerns Unternehmen? Droht eine Pleitewelle? Das haben wir Philipp Ganzmüller gefragt, der bei Creditreform für den Großraum München und andere bayerische Städte verantwortlich ist.
Herr Ganzmüller, als Auskunftei und Inkassodienstleister wissen Sie sehr genau, wie es Bayerns Unternehmen geht. Ist das Krisengerede übertrieben oder steht den Firmen wirklich das Wasser bis zum Hals?
Die Stimmung ist tatsächlich mies, so schlecht wie in der Dotcom-Krise. Und die Lage ist auch nicht viel besser. Wir fragen die Unternehmen regelmäßig nach ihrer Situation und ihren Geschäftsaussichten, seit zwei Jahren trübt sich das Bild immer weiter ein. Man kann von einer regelrechten Depression sprechen. Vor allem im Maschinenbau, in der Industrie und im Autobau ist die Situation prekär, aber auch am Bau, bei Immobilien und im Handel. Dabei kommen sehr viele Probleme zusammen. Das ist wie ein Giftcocktail.
Schlägt sich das in Insolvenzen nieder und droht Deutschland eine Pleitewelle?
Eine große Pleitewelle ist zwar nicht in Sicht, die Anzahl der Insolvenzen ist aber deutlich gestiegen und wird weiter nach oben gehen. Das folgt jedoch auf Jahre, in denen es kaum noch Pleiten gab.
Weshalb?
Erstens, weil die deutsche Wirtschaft im Windschatten Chinas lange boomte. Zweitens, weil die Bundesregierung während der Corona-Pandemie und zu Beginn des Ukraine-Krieges einen wirklich guten Job gemacht und mit ihren Hilfen viele akute Schieflagen verhindert hat. Bei Corona hatten wir einen Insolvenz-Tsunami erwartet – und lagen falsch. Und drittens, weil die Zinsen lange sehr niedrig waren.
Und jetzt steigt die Zahl der Insolvenzen wieder?
Bis Ende September gab es bereits 19 193 Pleiten in Deutschland. Läuft das so weiter, wird es in diesem Jahr 20 bis 30 Prozent mehr Firmenpleiten als 2023 geben. Das ist zwar nicht so viel wie um die Jahrtausendwende – damals hatten wir etwa 40 000 Pleiten pro Jahr –, aber deutlich mehr als in den vergangenen zehn Jahren. Das wird man spüren. Hinzu kommt das, was wir stille Insolvenzen nennen. Also das Restaurant, der Metzger oder der Friseur, der seinen Laden zusperrt, weil er sich nicht mehr lohnt. Das passiert momentan massenhaft.
Welche Branchen trifft es besonders?
Wir haben bis September rund 3150 Pleiten auf dem Bau, 2650 im Groß- und Einzelhandel, 1630 in der Gastronomie und etwa 2000 rund um das Thema Immobilien gezählt. Dazu kommen über 130 im Maschinenbau und dutzende im Fahrzeugbau und bei Autozulieferern. Da sind auch spektakuläre Fälle dabei. Es gibt wieder mehr große Unternehmen, die entweder in der Insolvenz sind oder Probleme haben und andere mit sich nach unten reißen. Denken Sie an den Autozulieferer Leoni, den Batteriehersteller Varta oder an den Agrarkonzern Baywa.
Wie steht Bayern im Vergleich da?
Was Insolvenzen angeht, geht es Bayern immerhin besser als Deutschland insgesamt. Im Freistaat gab es bis September etwa 2900 Firmenpleiten, in Nordrheinwestfalen dagegen fast 4400 und sogar im Stadtstaat Berlin waren es über 1500. Die Firmen im Süden haben in den vergangenen 20 Jahren extrem gut verdient, deshalb haben sie heute mehr Eigenkapital und sind resistenter gegen Krisen. Trotzdem: Gut sieht es auch hier nicht aus. Auf Bayern kommen harte Jahre zu.
Weshalb?
Weil zwei für Bayern wichtige Bereiche kippen: Immobilien und Industrie.
Immerhin gibt es noch eine industrielle Basis.
Aber die industrielle Basis erodiert. Da kommt einiges zusammen: Die Transformation zur Elektromobilität und der Wegfall des billigen russischen Gases, auf das man lange vertraut hat. Auch die wirtschaftlichen Probleme in China wirken sich sehr negativ auf die Autoindustrie aus.
Das trifft aber nur ein paar große Autobauer, oder?
Der Autobau ist eine Schlüsselindustrie im Süden. Das Gefährliche ist: Hustet die Autoindustrie leicht, haben andere Branchen einen richtigen Schnupfen. Vor allem die Zulieferer sind im Moment in einer wirklich schwierigen Situation. Bisher ist die Kapitaldecke bei vielen von ihnen noch so dick, dass es nicht um das nackte Überleben geht. Doch Sparmaßnahmen und Jobabbau dort wirken sich auf die gesamte Wirtschaft in Bayern aus.
Auch auf Handel, Bau und Immobilien?
Indirekt sicher, aber es gibt noch andere Faktoren, die dort belasten. Beim Handel sind die finanziellen Polster klein, die Margen sehr gering und der stationäre Einzelhandel stirbt seit Jahren einen langsamen Tod. Und bei den Immobilien treffen die gestiegenen Zinsen auf das hohe Preisniveau in München und Oberbayern. Aus der Immobilienblase wurde sehr schnell Luft gelassen. Da wackeln nun Existenzen, vor allem bei gewerblichen Vermietern und Projektentwicklern.
Sogar in München, wo Leerstand lange ein Fremdwort war?
Will man als Firma umziehen, wird man in München heute mit Angeboten zugeschüttet. Viele Makler haben sich komplett aus dem Markt zurückgezogen. Das zeigt, wie verzweifelt die Situation ist. Heute werden außerdem Bauträger und Immobilienentwickler sehr kritisch von Banken beäugt – wenn sie überhaupt noch einen Kredit kriegen.
Haben die Firmen auch Fehler gemacht?
Viele Projekte wurden einfach in einer anderen Zeit geplant: Vor Corona stiegen die Preise immer weiter, Homeoffice war ein Fremdwort, die Wirtschaft lief und Inflation und Zinsen waren damals noch kein Thema. Das alles hat sich geändert und das stürzt viele Bauträger in Probleme. Das wissen wir auch aus unserer Tätigkeit im Inkassobereich, wo es viele Fälle in der Baubranche gibt und auch die Höhe der Ausstände oft sehr hoch ist.
Wie reagiert die Branche auf die Probleme?
Sie versucht, die Mieten so weit nach oben zu treiben wie es geht – der Krug geht nunmal so lange zum Brunnen, bis er bricht. Doch angesichts der Leerstände ist das schwer durchzuhalten. Deshalb drohen noch mehr Insolvenzen bei Immobilienentwicklern und im Bausektor.
Sie hatten gesagt, dass es wieder mehr große Pleiten gibt. Heißt das, dass der Staat wieder öfter als Retter auftreten könnte?
Das kann ich mir gut vorstellen. Auch in Gesprächen mit Banken und Unternehmen merke ich, dass der Staatseinstieg wieder salonfähig zu werden scheint.
Was halten Sie davon?
Manchmal braucht es eine Marktbereinigung und ordnungspolitisch mag man Rettungen durch den Staat falsch finden. Was wäre, wenn eine Baywa-Pleite für einen Flächenbrand in der Landwirtschaft sorgen und viele Landwirte mit ins Verderben reißen würde? Das würde nicht nur die Landwirte und Banken betreffen, sondern auch die Verbraucher, wenn im Supermarkt plötzlich Äpfel oder andere Produkte fehlen. Und was, wenn weitere große Autozulieferer in Schwierigkeiten kommen und wie bei Leoni sofort die Chinesen da sind und das deutsche Know-how aufkaufen? Das muss man mit berücksichtigen, wenn man über Staatshilfen spricht. Am liebsten wäre es mir aber, wenn Unternehmen ihre Krise aus eigener Kraft meistern. Bei der Baywa bin ich da auch optimistisch.
Interview: Corinna Maier
und Andreas Höß