Wegen großen Interesses hat das Bayerische Oberste Landesgericht eine Messehalle in München-Riem für den Prozess gemietet. © Carsten Hoefer/dpa
München – Die Schadenersatzklage, die für zehntausende Ex-Aktionäre des Pleitekonzerns Wirecard den Weg ebnen soll, beginnt am Freitag mit einem Paukenschlag. 49 Minuten vor Prozessbeginn sei ein Schriftsatz eingegangen, der die Zuständigkeit des Bayerischen Obersten Landesgerichts anzweifelt, gibt dessen Richterin Andrea Schmidt bekannt. Der Antrag, der stattdessen das Oberlandesgericht München in der Pflicht sieht, stammt aus den Reihen geschädigter Aktionäre. Das wäre an sich schon merkwürdig genug. Dann nehmen aber noch die Anwälte von Musterkläger Kurt Ebert dazu Stellung. „Unser Mandant schließt sich dem Antrag an“, erklärt eine etwas zerknirscht wirkende Rechtsanwältin. Ebert, der stellvertretend für zehntausende Wirecard-Geschädigte klagt, lehnt das Gericht ab.
Die Unruhe in der Wappenhalle des ehemaligen Münchner Flughafens in Riem, die als Gerichtssaal dient, ist spätestens jetzt groß. Das Gericht, das auf Basis des sogenannten Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetzes (KapMuG) verhandeln soll, zieht sich zur Beratung zurück. Ebert als Hauptprotagonist der Klägerseite ist dabei nicht einmal im Saal anwesend. Er urlaubt, ist zu hören. Zwingend erforderlich ist seine Anwesenheit nicht. Die Ablehnung des Gerichts nach gut einem Jahr Vorbereitungszeit für das als größter Zivilprozess in der Rechtsgeschichte Deutschlands titulierte Verfahren hätte die Anwesenheit des Musterklägers aber geraten erscheinen lassen. Seine Anwälte können nicht erklären, was ihren Mandanten mit seinem Veto geritten hat. Es sieht so aus, als würden sie es selbst nicht wissen.
Einige Minuten droht der Prozess schon zu scheitern. Dann kommt das Gericht zurück. „Wir gehen von unserer Zuständigkeit aus“, gibt Richterin Schmidt bekannt. Final entschieden sei das noch nicht. Es kann aber nun zumindest unter Vorbehalt weiterverhandelt werden. Vom Kern der Vorwürfe bleibt man dennoch weit entfernt. Ebert will auf Basis des KapMuG vor allem von Wirtschaftsprüfern der EY Deutschland in Stuttgart Schadenersatz erstreiten, weil die sich per Bestätigung falscher Bilanzen mitschuldig gemacht hätten. Auf Regress verklagt sind ferner vier EY-Prüfer und mehrere Ex-Vorstände von Wirecard, darunter Ex-Konzernchef Markus Braun.
Die Tatsachenvorwürfe kommen erstmal nicht zur Sprache, weil Richterin Schmidt vorab zu den juristischen Vorarbeiten des Landesgerichts München Stellung nimmt. Sie zerfetzt diese zwei Stunden lang in der Luft. „Die juristische Qualität des Vorlagenbeschlusses ist sehr vorsichtig formuliert äußerst dürftig“, betont Schmidt. Der Beschluss des Landesgerichts bildet die juristische Basis der Regressklage. Schmidt zerpflückt die Vorarbeit ihrer Kollegen Punkt für Punkt und nennt dort formulierte Vorwürfe fast ausnahmslos „unbestimmt und damit unzulässig“.
Das Ende aller Anlegerhoffnungen ist das nicht. Denn die Anwälte des Musterklägers haben Ähnliches kommen sehen und gut 2500 Vorwürfe nachgeschoben. Zum juristischen Gehalt dieses üppigen Nachschlags sagt Schmidt an diesem Tag inhaltlich nichts. Theoretisch könnten sie aber bestehende Klagemängel heilen.
Das ist aber nicht die letzte Hürde, die sich am ersten KapMuG-Verhandlungstag auftut. Da ist noch die technische aber zentrale Frage, ob EY überhaupt regresspflichtig gemacht werden kann. Die Wirtschaftsprüfer sagen, dass ein Testat, wie sie es jahrelang ohne Einschränkungen für Wirecard-Jahresabschlüsse erteilt haben, keine öffentliche Kapitalmarktinformation ist. Nur gegen solche kann auf KapMuG-Basis geklagt werden. Da spielt es erst einmal keine Rolle, ob die Wirecard-Bilanzen von vorne bis hinten gefälscht waren, wie man heute weiß. Die Frage, welchen Status die Testate von Wirtschaftsprüfern haben, klärt derzeit der Bundesgerichtshof (BGH). Ein Urteil wird für Februar 2025 erwartet. Erst dann ist klar, ob die KapMuG-Klage von dieser Seite her eine Zukunft hat. Denn von EY ist im Fall einer Verurteilung verglichen mit den anderen potenziell Regresspflichtigen mit Abstand am meisten Geld zu holen.
Eine Vorentscheidung ist im KapMuG-Verfahren trotz all dieser Widrigkeiten noch nicht gefallen. Deutlich besser hätte der Start aus Klägersicht aber fraglos ausfallen können. Über 8500 Einzelklagen auf 750 Millionen Euro Schadenersatz sind wegen des potenziell wegweisenden KapMuG-Verfahrens derzeit ausgesetzt. Insgesamt belaufen sich Regressforderungen allein durch Ex-Aktionäre auf 8,5 Milliarden Euro. Nimmt man Banken und andere Geschädigte hinzu, sind es 20,5 Milliarden Euro, sagt die 65-jährige Richterin Schmidt zur ganzen Dimension des Debakels.