WIE ICH ES SEHE

Und über uns leuchtet der Bogen

von Redaktion

Meine Weihnachtsgeschichte schlägt den Bogen über ein ganzes Leben. Sie beginnt 1945 mit Hans Wagner. Der war Porzellanmaler in Selb bei Hutschenreuther. Im Krieg wurde der verwitwete Vater von zwei Kindern ohne Rücksicht zu Hitlers Wehrmacht eingezogen. Die Kinder kamen zu Nachbarn zur Betreuung.

Hans hatte Glück, er überlebte den Krieg und kam in englische Gefangenschaft, weit fort von Bayern in Ostfriesland an der Nordsee. Als offenes Gefangenenlager nutzten die Engländer eine große Strohscheune auf dem Marschbauernhof meines Großvaters, dort, wo meine Mutter und ich als Flüchtlinge gelandet waren. Im Stroh hatten es sich die besiegten Soldaten recht gemütlich eingerichtet.

Einmal wurde sogar ein richtiges Scheunenfest gefeiert mit den Damen vom Bauernhof, meinen Tanten, meiner Mutter sowie den jungen Mägden, die es damals auf solchen Höfen noch gab, als begehrte Tänzerinnen. Unsere englischen Sieger spendierten dazu sogar eine Extramahlzeit aus ihrer Gulaschkanone. So begann unsere Freundschaft mit Hans, dem Porzellanmaler aus Selb, dem ich unendlich viel verdanke.

Denn Hans hatte viel Zeit als Gefangener, der auf seine Entlassung wartete. Täglich nahm er mich fünfjährigen Steppke in seine pädagogischen Arme. Alles habe ich von ihm gelernt, wenn wir über die Felder zogen: die Uhr, die Zahlen, die Sternzeichen am Himmel. Aus dem meeresschweren Kleiboden formte der Porzellangestalter wunderbare Figuren, die beim Trocknen auf dem Ofen meiner Großmutter einige Tage zu bewundern waren, bis sie zerbröckelten. Und er zeichnete auch wunderschöne Bilder.

Als Familienvater wurde Hans als einer der Ersten entlassen zu seinen Kindern in Selb und auch, um in die wiederbeginnende Porzellanproduktion einsteigen zu können. Produziert wurde aber in dieser Zeit des Mangels nur für den Export. Für Deutsche blieb Porzellan unerschwinglich. Meine Mutter als Flüchtling hatte nichts, kaum eine Tasse.

Sie schickte aber vom Bauernhof der Großeltern das eine oder andere Speckpaket nach Selb, denn auch dort war die Versorgung mit Lebensmitteln sehr schlecht in dieser Zeit.

Und nun kam Weihnachten 1945. Wir hatten inzwischen eine kleine Wohnung, der Vater war zurückgekommen. Es gab keinen Strom, nur Petroleumlicht an diesem Weihnachtsabend. Aber dann stand auf dem Tisch plötzlich ein großes Postpaket aus Selb von Hans mit einem wunderbaren brandneuen Hutschenreuther Teeservice. Ich sehe noch, wie meine Mutter beim Auspacken geweint hat vor Glück. Aus diesen Teetassen trinken wir heute noch. Das Service war der erste Schritt für die Eltern zurück ins bürgerliche Leben.

Horst, der Sohn von Hans, lebt heute in Lübeck. An diesem Weihnachtsfest 2024 werden der inzwischen 90-Jährige und ich uns zum ersten Mal sehen. Durch unglaubliche Zufälle haben wir uns endlich entdeckt. So leuchtet über uns ein Bogen von Weihnachten 1945 zu Weihnachten 2024. Mögen sein Vater Hans und meine Mutter Käthe von ihren Himmelshöhen gnädig auf uns niedersehen in diesen Weihnachtstagen.

Schreiben Sie an:

ippen@ovb.net

Artikel 3 von 5