INTERVIEW

„Nur Jagen und Fischen sind weniger digital“

von Redaktion

Nemetschek-Chef Yves Padrines über die Krise der Baubranche in Deutschland

Yves Padrines ist seit 2022 Chef von Nemetschek. Zuvor leitete der 1976 geborene Franzose den Videosoftware-Konzern Synamedia und arbeitete bei der IT-Firma Cisco. © Nemetschek

Bei großen Bauprojekten kommt man an Planungssoftware und Künstlicher Intelligenz kaum mehr vorbei. Aber gerade bei kleinen und mittleren Projekten sehe man erschreckend oft noch Zettel und Stift, so der Nemetschek-Chef. © IMAGO/Rolf Poss

München – Als der Ingenieur Georg Nemetschek im Jahr 1963 sein auf Tragwerksplanung spezialisiertes Ingenieursbüro gegründet hat, war Künstliche Intelligenz noch eine Zukunftsvision. 1977 brachte Nemetschek das erste Statikprogramm auf den Markt, heute ist der im MDax gelistete Konzern der zweitgrößte Softwarekonzern in Deutschland und unter den Top 10 in Europa. Weil die Baubranche mit der rasanten Digitalisierung nicht schritthält, werde Bauen immer teurer und langwieriger, kritisiert Nemetschek-Chef Yves Padrines, mit dem wir kurz vor der am 13. Januar beginnenden Fachmesse Bau gesprochen haben.

Herr Padrines, die Bauindustrie steckt in einer Krise. Machen Sie sich Sorgen?

Die Bauindustrie hat viele Probleme, besonders im Wohnungsbau. Gerade in Deutschland ist die Lage tatsächlich schwierig. Uns als Anbieter von Planungs- und Bausoftware trifft das aber gar nicht so, denn der Markt für Software und Digitalisierungs-Tools wächst. Das wird die nächsten Jahrzehnte so weitergehen.

Wirklich?

Ja, die Digitalisierung in der Baubranche steckt immer noch in den Kinderschuhen. Da gibt es sehr viel aufzuholen, weltweit. Es gibt nur zwei Branchen, die noch weniger digital sind als der Bau. Wissen Sie, welche? Jagen und Fischen.

Das heißt, Häuser werden immer noch so gebaut wie vor hundert Jahren?

Das kann man nicht über einen Kamm scheren, der Grad der Digitalisierung ist von Baufirma zu Baufirma sehr unterschiedlich. Aber gerade in kleineren und mittleren Architekturbüros und Baufirmen sieht man erschreckend oft Zettel und Stift – nicht nur in Indien oder Asien, auch in Europa. Und wenn diese Unternehmen Software nutzen, dann häufig Excel oder simple 2D-Modelle. Dabei kann gute Planungssoftware helfen, die großen Probleme am Bau zu lösen.

Welche sind das?

Erstens sind 90 Prozent aller Bauprojekte zu spät fertig und werden teurer als geplant.

Stuttgart 21 lässt grüßen.

Genau. Das trifft aber auch auf kleine Projekte wie Eigenheime, Kindergärten oder Firmengebäude zu. Sogar die Badezimmerrenovierung dauert oft länger und wird teurer als gedacht. Für Bauherren ist das ein großes Problem. Zweitens werden 20 Prozent des Materials in Bauprojekten verschwendet. Schon angesichts der hohen Materialpreise ist das eine Katastrophe, von Umweltaspekten gar nicht zu sprechen. Drittens fehlen im Bausektor weltweit im Moment rund sieben Millionen Fachkräfte. Nimmt man all diese Probleme zusammen und hat im Hinterkopf, dass die Margen von Baufirmen oft nur einstellig sind, ist es kein Wunder, dass viele von ihnen im Moment Geld verlieren.

Baufirmen schimpfen, Bürokratie und Umweltauflagen würden Bauen teuer und kompliziert machen. Ist da was dran?

Es stimmt schon, die EU und vor allem Deutschland haben einen Hang dazu, selbst kleinste Details zu regeln – Bürokratie verkompliziert und verteuert das Bauen. Das macht es gerade in der aktuellen Krise für die Branche nicht leichter. Aber man muss ehrlich sein: Baufirmen hatten es bisher einfach nicht nötig, effizienter, produktiver und nachhaltiger zu arbeiten. Genau das ermöglicht die Digitalisierung. Gerade bei kleineren Projekten erinnern oft erst die Spezialisten und Fachgewerke in einem späteren Stadium des Baus an bestimmte Vorgaben, etwa bei der Dämmung, der Solaranlage oder der Einbindung der Heizung. Das verzögert und verteuert das Projekt dann, weil etwas umgeplant oder sogar umgebaut werden muss. Unsere Tools berücksichtigen all diese Vorgaben von Anfang an, was Zeit und Geld spart.

Also sind es nicht die Umweltvorschriften selbst, die der Branche schaden?

40 Prozent der globalen Emissionen an Treibhausgasen stammen aus dem Bau und dem Betrieb von Gebäuden. Dass da etwas getan werden muss, ist klar. Das fängt bei Kleinigkeiten an. Manchmal werden Fenster so gesetzt, dass nahe Türen nicht mehr richtig aufgehen und man das noch mal herausreißen und umbauen muss. Ähnlich ist es mit Leitungen. Klingt kurios, aber solche Planungsfehler sind der Hauptgrund für Materialverschwendung am Bau. Smarte und vernetzte 3D-Planungssysteme mit einer automatischen Qualitätskontrolle können solche Probleme von Anfang an vermeiden und so den Materialverbrauch senken. Außerdem gibt es viele weitere kleine Stellschrauben, an denen man in der Planung drehen kann, um ein Haus im Betrieb später effizienter zu machen.

Zum Beispiel?

Das Baumaterial, die Ausrichtung, die Energiesysteme: In unserer Planungssoftware kann man bei jedem Schritt sehen, wie die Auswirkungen auf den CO2-Fußabdruck sind. Das lohnt sich. Je effizienter ein Haus gebaut ist, desto geringer ist sein Energieverbrauch, was die Betriebskosten senkt. Und je besser ein Haus geplant ist, desto geringer sind die Kostensteigerungen und die Verzögerungen beim Bau.

Wie hoch ist die Ersparnis Ihrer Meinung nach?

Man kann mit Digitalisierung am Bau etwa 20 Prozent an Zeit und Geld einsparen. Und: Digitalisierung spart auch Ärger.

Inwiefern?

Baut man etwa ein Krankenhaus, müssen anfangs viele Dinge festgelegt werden: Wie breit sind die Gänge, damit Betten durchpassen? Wie müssen Räume gestaltet sein, damit große Geräte wie Computertomografen dort hineinpassen? Und so weiter. Da an solchen Projekten viele Architekten, Designer, Spezialisten und Firmen beteiligt sind, geht bei der Umsetzung immer wieder etwas schief, weil ursprüngliche Planungen irgendwo zwischen all diesen Ebenen verloren gehen. Wenn alle am Bau Beteiligten miteinander Daten und Informationen austauschen können, kann das nicht passieren.

Viele Industrieunternehmen haben dreidimensionale digitale Zwillinge ihrer Fabriken. Ist so etwas auch für normale Einfamilienhäuser denkbar?

Wir sind noch in einem sehr frühen Stadium dieser Technik, haben aber 2023 eine entsprechende Plattform veröffentlicht, die historische Daten vom Bau mit Betriebsdaten kombiniert. Um die Gebäudebasis zu erstellen, kann man mittlerweile Scans, aber auch Videos oder Bilder vom Gebäude nutzen. Für die Echtzeitdaten, etwa zu Energieverbrauch, Temperatur oder Luftfeuchtigkeit, braucht man Sensoren. Wir haben selbst einen digitalen Zwilling unseres Firmensitzes erstellt. Das hat insgesamt nur etwas mehr als einen Tag gedauert und war auch nicht allzu teuer. Bisher ist das eher ein Angebot für große und komplexe Anlagen wie Flughäfen, Fabrikhallen, Krankenhäuser oder Messegelände, die mit solchen Systemen nicht nur Emissionen senken, sondern auch sehr viel Geld sparen können. Das wird sich aber auf jeden Fall auch bei kleineren Häusern mehr und mehr durchsetzen.

Setzen Sie auch Künstliche Intelligenz in der Software ein?

Ja, in einer Planungssoftware unserer Marken kann man zum Beispiel bestimmte Vorgaben machen, die sie umsetzt: etwa, wie viel Zimmer, Balkone, Stockwerke, Fenster oder andere Dinge ein Gebäude haben soll. Man kann ihr auch sagen: Ich will die Front in roten Ziegeln und den Rest in Holz. Darüber hinaus kann KI vor bestimmten Fehlern warnen, die sie entdeckt, etwa bei der Statik, bei Materialien oder bei bestimmten Planungsfehlern wie den Fenstern, die nicht richtig aufgehen.

Wie werden wir in 100 Jahren bauen?

Die KI wird viele Dinge in der Planung selbst übernehmen und die Häuser werden viel öfter in Fabriken maßgeschneidert vorgefertigt und am Bau nur noch zusammengesetzt werden. Das wird aber nicht erst in 100, sondern schon in wenigen Jahren passieren. In Indien, Südostasien aber auch in reichen Ländern wie Deutschland gibt es dringenden Bedarf nach bezahlbarem Wohnraum. Und diese Bauweise senkt die Kosten.

Wird sie Architekten, Statiker und Bauarbeiter ihre Jobs kosten?

Nein, Künstliche Intelligenz wird ihnen sehr viel Zeit sparen. Das ist wichtig, immerhin haben wir am Bau einen riesigen Fachkräftemangel.


INTERVIEW: ANDREAS HÖSS

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