Brüssel/München – Die EU muss sich nach Einschätzung der Europäischen Kommission umgehend auf die reale Möglichkeit eines Krieges mit Russland vorbereiten. „Die Geschichte wird uns Untätigkeit nicht verzeihen“, warnt die Behörde unter der Leitung von Ursula von der Leyen in einem neuen Strategiepapier zur Zukunft der europäischen Verteidigung. Sollte Russland seine Ziele in der Ukraine erreichen, werde das Land seine territorialen Ambitionen darüber hinaus ausdehnen.
Hintergrund der neuen Strategie sind insbesondere auch die Ankündigungen von US-Präsident Donald Trump, nach denen die atomare Supermacht USA künftig nicht mehr bedingungslos als Garant für Frieden in Europa zur Verfügung zur stehen wird. „Die Sicherheitsarchitektur, auf die wir uns verlassen haben, kann nicht länger als selbstverständlich angesehen werden“, erklärte von der Leyen zur Vorstellung des Weißbuches. Man müsse jetzt die eigenen Fähigkeiten stärken und in Verteidigung investieren.
Um Russland und andere aggressive Akteure wirkungsvoll abzuschrecken, ist es aus Sicht der EU-Kommission nun notwendig, so schnell wie möglich bestehende militärische Lücken in sieben Schlüsselbereichen zu schließen. Zu diesen gehören nach dem neuen Strategiepapier die Luftverteidigung und Raketenabwehr, aber auch Artilleriesysteme, Drohnen und militärische Transportkapazitäten. Nach Vorstellung der Kommission sollten die EU-Staaten beim Kauf eng kooperieren und mindestens 40 Prozent der benötigten Güter gemeinsam bestellen.
„Die gemeinsame Beschaffung ist das effizienteste Mittel zur Beschaffung großer Mengen von Verbrauchsgütern wie Munition, Raketen und Drohnen. Aber die gemeinsame Beschaffung ist auch entscheidend für die Umsetzung komplexerer Projekte“, heißt es in dem Weißbuch. Dies liege etwa daran, dass die Bündelung der Nachfrage die Kosten senke, klare Nachfragesignale an die Rüstungsindustrie sende und die reibungslose Zusammenarbeit von nationalen Streitkräften ermögliche.
Um Aufrüstung zu finanzieren, sind nach bereits vor zwei Wochen veröffentlichten Vorschlägen der Kommission unter anderem EU-Kredite in Höhe von 150 Milliarden Euro sowie Ausnahmen von den strengen EU-Schuldenregeln vorgesehen. So sollen in den kommenden vier Jahren insgesamt 800 Milliarden Euro mobilisiert werden.
Die Europäer dürften sich nicht mehr auf Sicherheitsgarantien aus den USA verlassen, heißt es in den Kommissionsvorschlägen. „450 Millionen Bürger der Europäischen Union sollten sich nicht auf 340 Millionen Amerikaner verlassen müssen, um sich gegen 140 Millionen Russen zu verteidigen, die 38 Millionen Ukrainer nicht besiegen können“, sagte EU-Verteidigungskommissar Andrius Kubilius. „Es ist an der Zeit, dass wir die Verantwortung für die Verteidigung Europas übernehmen.“
Der Chef des Rüstungskonzerns Hensoldt, Oliver Dörre, fordert ein grundlegend neues Beschaffungssystem. Deutschland und Europa sollten sich an den USA orientieren und verstärkt auf die lokale Beschaffung von Rüstungsgütern setzen. Mehr Verteidigung könne zudem die Wirtschaft ankurbeln. „Rüstungsausgaben sind ein gigantisches Konjunkturprogramm“, sagte der Chef des auf Radare und Sensoren spezialisierten Konzern mit Sitz in Taufkirchen. Radare von Hensoldt kommen im Ukraine-Krieg zum Einsatz, um die Bevölkerung vor russischen Luftangriffen zu schützen und stecken im Kampfjet Eurofighter.