INTERVIEW

„Sozialstaat ist kein Krisenfaktor“

von Redaktion

Wirtschaftsweiser Truger über Rente und Wirtschaftswachstum

Nicht jeder kann im Alter noch arbeiten. Auch Schreibtischberufe können anstrengend sein, gibt der Wirtschaftsweise zu bedenken. © Arne Dedert, dpa

Berlin – Wirtschaftskrise, Haushaltslöcher: Auf der Suche nach Sparmöglichkeiten schaut die Politik immer wieder auf den Sozialhaushalt. Der Wirtschaftsweise Achim Truger wirbt aber dafür, „nicht die ärmsten Leute die Zeche zahlen“ zu lassen.

Da ich Journalist bin und nicht Dachdecker, wäre ich damit einverstanden, erst mit 68 in Rente zu gehen. Halten Sie das für einen diskussionswürdigen Vorschlag in der aktuellen Debatte über die Reform des Sozialstaats?

Wenn die Leute perspektivisch immer älter werden, kann man auch über das Renteneintrittsalter sprechen. Das könnte die Finanzierung eines anständigen Sicherungsniveaus erleichtern. An der aktuellen Debatte ärgert mich aber maßlos, dass die Dinge durcheinander geworfen werden. Natürlich sollte man unaufgeregt und gründlich über intelligente Reformen bei der Rente, der Kranken- und Pflegeversicherung oder beim Bürgergeld reden. Stattdessen wird Panik verbreitet und der Sozialstaat verantwortlich für die Wirtschaftskrise und die Löcher im Bundeshaushalt gemacht. Das ist Unsinn.

Wenn viele Firmen weniger verdienen als vorher und dem Bundesfinanzminister Steuereinnahmen fehlen, fällt aber besonders auf, dass alleine die Rente 140 Milliarden Euro pro Jahr aus dem Haushalt kostet, knapp 30 Prozent des Etats.

Die Zahlen bestreite ich nicht. Aber was folgt daraus? Jedenfalls nicht, dass der Sozialstaat für die Lücken im Haushalt verantwortlich ist. Die Finanzprobleme ergeben sich vor allem aus höheren Zinsausgaben. Die sind aber Ergebnis höherer Schulden zur Bekämpfung vergangener Krisen und neuer Herausforderungen. Denken Sie an die Maßnahmen gegen die Corona-Pandemie, gegen die Energiekrise nach dem russischen Angriff auf die Ukraine, jetzt das Aufholen der Versäumnisse bei unserer maroden Infrastruktur und der Bundeswehr. Ich wünsche mir eine Ursachenanalyse. Sich einfach den größten Posten im Haushalt vornehmen und die Keule rausholen – das geht doch nicht.

Fast ein Drittel des Bruttoinlandsprodukts wird für Sozialleistungen aufgewendet, Tendenz steigend. Ist das denn nicht bedenklich?

Wenn das Bruttoinlandsprodukt stagniert und beispielsweise mehr Leute arbeitslos werden, ist es kein Wunder, dass im Verhältnis dazu die Ausgaben für Sozialleistungen wachsen. Denn das ist die Aufgabe des Sozialstaates: Die Beschäftigten und Privathaushalte gegen die Krise abzusichern. Wofür haben wir ihn sonst? Der Sozialstaat ist ein Schutzfaktor, kein Krisenfaktor.

Wäre es denn nun eine intelligente Reform bei der Rente, eine Differenzierung der Lebensarbeitszeit einzuführen? Leute mit körperlich harten Jobs arbeiten weniger Jahre bis zum vollen Rentenanspruch, Beschäftigte mit Schreibtisch-Tätigkeiten länger.

Ich bin skeptisch, wie man die Tätigkeiten von einander abgrenzt. Auch Schreibtischberufe können körperlich anstrengend sein, Angestellte klagen über zunehmenden Stress. Manche Leute arbeiten erst in der Fertigung, später in der Verwaltung. Wie legt man die Anteile im Lebenslauf für die Berechnung der Lebensarbeitszeit fest? Das ist nicht die richtige Debatte in der momentanen Krise. Sowieso steigt doch die Lebensarbeitszeit an. Die 67 Jahre für alle werden erst 2031 erreicht.

Was wäre denn die richtige Debatte? Aktuell vorgeschlagen wird beispielsweise auch, dass man das erste Jahr der Pflegebedürftigkeit selbst bezahlt oder der Anspruch auf Bürgergeld sinkt, wenn man Termine beim Jobcenter versäumt.

Der Pflege-Vorschlag ist Aktionismus, nicht durchdacht, aus der Hüfte geschossen. Viele Bürgerinnen und Bürger haben gar kein Geld, das ein Jahr zu bezahlen, weil die Versorgung zehntausende Euro kosten kann. Ich bin dafür, die beschlossenen Kommissionen ein paar Monate arbeiten zu lassen und sich dann auf vernünftige Maßnahmen zu einigen. Für das Bürgergeld haben wir als Sachverständigenrat für Wirtschaft mal dies vorgeschlagen: Der Anreiz, eine Arbeit aufzunehmen, steigt, wenn der zusätzliche Lohn weniger stark mit dem Bürgergeld verrechnet wird, diejenigen, die arbeiten also ein besseres Einkommen erzielen. Das kostet den Staat am Ende nichts, weil die Menschen mehr arbeiten und die Armutsquote sinkt. Das wäre eine konstruktive, schöne Reform, bei der nicht die ärmsten Leute die Zeche zahlen. Es ist auch nichts dagegen einzuwenden, die Schwarzarbeit besser zu bekämpfen – und vor allem die Steuerhinterziehung.

Die Unternehmen müssen mehr attraktive Produkte herstellen, den technischen Fortschritt beschleunigen, die Produktivität steigern, aus der wir unseren Wohlstand generieren. Wie macht man das?

Wenn die Betriebe dank der neuen Abschreibungen ihre Maschinen und Ausstattung erneuern, werden sie produktiver. Der Staat sollte außerdem mehr für Forschung, Bildung und gute Kinderbetreuung ausgeben. Das erhöht perspektivisch auch die Produktivität. Mit Kürzungen bekommt man es aber nicht hin.

In den nächsten 20 Jahren könnten die Staatsfinanzen unter enormen Stress geraten. Irgendwann muss man die horrenden Militärausgaben von 200 Milliarden Euro jährlich aus Einnahmen finanzieren. Wie kann das klappen?

Das geht nur solidarisch, indem die Steuerlast für hohe Einkommen und Vermögen steigt. Aber auch teure Subventionen wie das Dieselprivileg müssen dann weg.

Artikel 7 von 8