Ganz klar: Alle Bayern sind katholisch. Aber lasst es uns zum 500. Jahrestag der Reformation auch einmal anders herum sehen: Irgendwie sind alle Bayern auch Protestanten. Jedenfalls was die Widerständigkeit angeht und den Individualismus. Unverstelltes Evangelisch-Sein verlangt ja echten Glauben und konsequente Freiheitsliebe, was beides gerade den Bayern kennzeichnet.
„An diesem Volksstamm kannst zerschellen“, seufzte bekanntlich sogar Petrus, als der Brandner Kaspar endlich vor ihm an der Himmelstür stand. Der Verfasser des Stücks, Franz von Kobell, war ein evangelischer Bayer und Fritz Straßner, der erfolgreichste Darsteller des Brandner Kaspar am Münchener Residenztheater, war es auch. Auch das Gegenbild zum Himmelsbarock, Evangelisch-Sein als lutherische Reduktion – als Zurück-Führung auf das Wesentliche – hat vom „typisch Bayerischen“ Besitz ergriffen. Reduktion gilt heute als hochmodern. Bis zum Baustil und gerade in Altbayern gehört es zum guten Geschmack, alte, unbehandelte Materialien zu verwenden.
Das Wappensymbol des katholischen Altbaiern im bayerischen Staatswappen – der Blaue Panther – gehört einer evangelischen Familie: den Ortenburgern. Unweit von Vilshofen und dem Rottal, wo schon vor über 450 Jahren die Reformation eingeführt wurde. Sogar die Bavaria, weltliche Patronin Bayerns, über der Münchener Wiesn, hat ein evangelisches Profil, nach dem Gesicht von Bayerns evangelischer Königin Therese, der Gemahlin König Ludwigs I. Gleich drei der vier bayerischen Königinnen waren evangelisch, neben Therese ihre Vorgängerin, Königin Caroline, die Gattin König Max I. und nach ihr Königin Marie, die Mutter des Märchenkönigs, verheiratet mit Max II. Nach dem Tod ihres geliebten Max wurde Marie allerdings katholisch: weil sie im Paradies nicht von ihrem Mann getrennt sein wollte.
Im Moment reden alle vom evangelischen Markus Söder, sagen, dass vor ihm Günther Beckstein der erste evangelische Regierungschef Bayerns gewesen sei. Das stimmt nicht. Evangelisch war schon der mächtige Stammvater aller heute lebenden Wittelsbacher, Graf Wolfgang von Pfalz-Zweibrücken. Im 19. Jahrhundert war der politisch entschiedenste Gegenspieler Preußens der Bayerische evangelische Ministerpräsident Ludwig von der Pfordten. Schon im 18. Jahrhundert wurde der evangelische Graf Rumford – dem die Münchener den Englischen Garten verdanken – zum wichtigsten Minister des Kurfürsten Karl Theodor ernannt. Und lutherische Regionalfürsten gab es in Oberbayern schon gleich nach der Reformation. Entschieden lutherisch war der Begründer der bayerischen Almwirtschaft und der Almordnung im Gebirge, der Regionalherrscher Pankraz von Freyberg, der vor 450 Jahren in Hohenaschau amtierte.
Sage auch niemand, dass die Protestanten keinen Humor hätten: Evangelisch waren und sind die künstlerischen Symbolfiguren des bayerischen Paradox, der weltberühmte Karl Valentin aus Gräfelfing („der Mensch ist guat, nur d’ Leut’ san schlecht“) und Gerhard Polt, der Satiriker-Star aus Altötting („the idea of Freibier in Bavaria is deeply religious“).
Franz Josef Strauß überraschte bei der Eröffnung einer Luther-Ausstellung in Nürnberg anlässlich des 500. Geburtstags des Reformators seine Zuhörer mit dem Bekenntnis: „Auch ich stehe als Deutscher auf den Schultern Martin Luthers, des genialen und wortmächtigen Sprachschöpfers und deutschen Patrioten.“
Bayerisch-Sein im 21. Jahrhundert braucht die katholisch-evangelische Substanzverteidigung. Niemand hat dies klarer vorausgesehen als der bayerische Papst. Noch als Münchener Erzbischof besuchte Josef Kardinal Ratzinger die evangelische Matthäus-Kirche am Sendlinger-Tor-Platz. In seiner Predigt brachte er beides zusammen: „Wenn wir die Worte des Glaubens von beiden Seiten lesen, etwa die Sätze des heiligen Johannes vom Kreuz oder die Lieder von Paul Gerhardt, dann wird sichtbar, dass es in dem innersten Dialog des Glaubens immer Einheit gegeben hat und gibt.“ Und kurz davor, bei seiner Inthronisation im Liebfrauendom: „Ein Bayern, in dem nicht mehr geglaubt würde, hätte seine Seele verloren. Und keine Denkmalpflege auf der Welt könnte darüber hinwegtäuschen.“
Evangelisch in Bayern
Von Peter Gauweiler, 160 S., Verlag Claudius, 15 Euro, 2017