Bichl – Kater Monti thront auf dem Schreibtisch der Tierarztpraxis Isarwinkel in Bichl (Kreis Bad Tölz) und schnurrt. Die Katze von der Größe einer Bulldogge genießt die morgendliche Betriebsamkeit im Büro, das tagsüber normalerweise leer und verlassen ist. Doch in der Früh, wenn Tierarzt Michael Binder seine beiden Kolleginnen zur Lagebesprechung zusammenruft, ist einiges los – die Terminvergabe steht an. Trächtigkeitsuntersuchungen bei Kühen, Besamungen, Enthornung der Kälber und Fleischbeschau stehen heute unter anderem auf dem Plan. Alltagsaufgaben für die drei Landtierärzte. Sie gehören zu den wenigen, die sich für den Beruf entschieden haben und ihn auch gerne ausüben. Die Großtierärzte in Bayern plagen Nachwuchssorgen.
Seine Kuhfell-Clogs tauscht Binder zehn Minuten nach der Konferenz gegen grüne Gummistiefel. Seine Angestellten sind schon losgefahren, die ersten Patienten warten. Der 42-Jährige schnappt sich einen Energy-Drink, eine Packung Zigaretten und steigt in seinen weißen Kastenwagen. „Auf geht’s“, sagt er und lässt den Motor an. Binder fährt über Landstraßen und durch Dörfer. Immer im Blick: ein altes Tastenhandy mit gesprungenem Bildschirm von Samsung. „Das ist DAS Telefon“, sagt er und grinst. Wie einen kleinen Schatz hüten seine Kollegen und er das kleine Gerät. „Das hat immer einer von uns dabei“, erklärt Michael Binder, macht das Autofenster einen Spalt auf und zündet sich eine Marlboro an. „Im Bereitschaftsdienst werden die Anrufe direkt auf das Handy umgeleitet.“ Ein Telefon, das Tag und Nacht im Einsatz ist und auch an den Wochenenden und Feiertagen nicht stumm bleibt. „Es ist ganz klar ein Fulltime-Job“, sagt der Tierarzt. „Man muss es mögen.“
Binder ist einer der wenigen Veterinärmediziner, die es mögen. Viele Uni-Abgänger schreckt das ständige Erreichbarsein gepaart mit der vergleichsweise schlechten Bezahlung eher ab. Da scheint die Arbeit als Kleintierarzt oder in einer Klinik oft attraktiver. Ein Rückgang der Zahl der Landtierärzte ist immer stärker spürbar. „Wir haben dieses Jahr etwa 400 Praxen verloren“, sagt der Vizepräsident der Bayerischen Landestierärztekammer, Paul Münsterer. Der Grund: der Nachwuchs fehlt. „Neu aufgemacht haben keine.“
Diesem Wandel will Bayerns Umweltminister Thorsten Glauber mit einem Zukunftskonzept entgegenwirken. Eine Landtierarztquote, ähnlich in der Humanmedizin, attraktivere Preismodelle wie Niederlassungsprämien und eine Änderung der Gebührenordnung will Glauber einführen.
„An sich kein schlechter Ansatz“, sagt Münsterer. Für ihn steht fest, dass Landtierärzte mehr verdienen müssen. Dass dies unter anderem über eine Erhöhung der Tierarztkosten möglich werden soll, sieht er jedoch kritisch. „Der Landwirt wird sich dreimal überlegen, ob er bei einer Verletzung oder Krankheit den Tierarzt ruft.“ Schlussendlich würden die Rinder, Schafe und Ziegen unter der neuen Gebührenverordnung leiden. „Eine Änderung darf nicht auf Kosten der Tiere gemacht werden“, sagt auch Binder, der die Praxis in Bichl von Münsterer vor vier Jahren übernommen hat. Damit eine Verbesserung für Tierärzte und Landwirte stattfinden kann, müsse der Preis für Fleisch und Milch deutlich erhöht werden. „So können die Bauern auch die Tierarztrechnungen ohne Bedenken bezahlen“, sagt Binder.
Der 42-Jährige biegt in eine Hofeinfahrt ein. Links steht das Wohnhaus, rechts der Kuhstall. Binder öffnet die Kofferraumklappe, zieht einen überdimensional langen Plastikhandschuh aus einer Schachtel und stülpt ihn über den Arm. Er stapft in Richtung Stalleingang. Während Binder die Tür öffnet, strömt ihm ein warmer Luftschwall entgegen, der nach Kuh, Futter und Mist riecht. Der Tierarzt schlängelt sich zwischen den gefleckten Rindern hindurch, bis er seine Patientin gefunden hat. Mit dem Arm greift er ihr in den Hintern und untersucht, ob die Kuh trächtig ist. Noch ist es nicht so weit. „In drei Tagen komm ich zur Besamung“, sagt er zum Bauern.
Dass Binder Tierarzt wurde, hat er auch seinem Vater zu verdanken. Der war selbst Landtierarzt im benachbarten Lenggries. „Man sieht, was man getan hat, wenn man zum Beispiel ein Tier gerettet hat“, sagt Binder. „Das ist einfach schön.“ Nach seinem Studium an der Ludwig-Maximilians-Universität in München übernahm er 2012 eine Mischpraxis in Bad Tölz, die er neben dem Standort in Bichl auch heute noch leitet. Dort behandeln seine Kollegen und er vor allem Kleintiere. „Ich mache und mag alles“, sagt er. „Das Unterschiedliche ist das Schöne an meinem Beruf.“ Er schätzt, dass er nicht nur in der Praxis sitzt, sondern auch die Freiheit hat, zu seinen Patienten zu kommen.
An der Isar entlang fährt Binder zurück nach Bichl. Der Energy-Drink ist leer, die Zigarette aufgeraucht. 50 000 Kilometer ist er in einem Jahr unterwegs. Die Hälfte seiner rund 15 Termine für heute hat er schon erledigt, nach der Mittagspause geht es für ihn weiter. Als er auf den Parkplatz der Praxis fährt, wartet Kater Monti schon auf ihn.