NATALIAS NEUANFANG

Neue Freunde, alte Ängste

von Redaktion

Meine 15. Woche in München und der 114. Kriegstag. Mein Leben wurde in Vorher und Nachher geteilt und München wurde zur zweiten Heimat für mich. In dreieinhalb Monaten habe ich zwei Jobs gefunden, eine Geschäftsreise nach Paris gemacht, mich in gemütliche bayerische Städte mit einzigartiger Architektur verliebt, die Berge und den Tegernsee besucht. Am Anfang fehlte mir das Reiten, das in meiner Heimatstadt ein tägliches Hobby für mich war. Ich habe auch das Autofahren vermisst. Mein Freund aus Rosenheim, der mich aus dem Flüchtlingslager an der Grenze zur Slowakei holte und dank dem ich jetzt hier bin, lud mich in einen Stall ein, und ich spürte bei den Pferden wieder dieses unvorstellbare Glück – ein Gefühl von Freiheit. Ein IT-Spezialist und ein Freiwilliger aus Sewastopol, den ich hier kennengelernt habe, ließ mich bei einem Ausflug in die Berge sein Auto fahren. Jetzt habe ich hier viele enge Freunde und es fühlt sich an, als würden wir uns schon ewig kennen. Sie sind ein Teil von mir geworden. Dies sind gebürtige Deutsche und Amerikaner sowie russischsprachige Ukrainer, Russen und Belarussen. Wir unterstützen uns gegenseitig.

Wenn Leute mich fragen, woher ich vor dem Krieg geflohen bin und wo ich jetzt lebe, möchte ich antworten –ich lebe auf der Erde. München ist eine Stadt der Welt. Sehr sauber und gepflegt, ruhig und gleichzeitig voller Energie und Freude. Aber es gibt etwas, was ich an München nicht mag: das Dröhnen von Flugzeugen und Helikoptern am Himmel. Es gibt so viele von ihnen hier. Ich mag auch die Werbe-Zeppeline nicht, die so tief fliegen. Oder die Geräusche von schließenden Koffern in Tiefgaragen, laute Bauarbeiten, Autos mit Sirenen auf den Straßen. Ich hasse die Gewitter mit Donner. All das löst bei mir eine Angst aus: dass sie auch beginnen, Deutschland zu bombardieren. Für manche wird das dumm oder seltsam klingen. Aber nicht für diejenigen, die mehrere Wochen vor einem möglichen Krieg gewarnt wurden, aber bis zuletzt nicht daran geglaubt haben – und dann gezwungen wurden zu fliehen. Jetzt scheint jedes Szenario real. Auch die unrealistischsten. Ich weiß, dass in den Flugzeugen am Himmel Urlauber sitzen und dass die Luftschiffe keine Aufklärungsflugzeuge sind und die Sirenen nicht vor Raketen warnen. Mich erinnert das alles aber nur noch an mein Heimatland und die Hölle, in der die Ukrainer leben.

Artikel 2 von 11