KOLUMNE

VON SUSANNE BREIT-KESSLER Die Gefahr der Enttäuschung

von Redaktion

Von Charlotte Wolff stammt der Satz: „Die Gefahr der Enttäuschung durch andere bewirkt eine Verletzbarkeit, die sich auswirkt wie die Nacht auf bestimmte Pflanzen: Sie schließen ihre Blüten.“ Charlotte Wolff war Ärztin und Schriftstellerin jüdischer Herkunft. Anfang 1933 wurde sie unter dem Verdacht der Spionage von der Gestapo verhaftet. Außerdem trug sie gerne Männerkleidung – ein No-Go für die Faschisten und ihr eindimensionales Menschenbild. Im selben Jahr floh Charlotte Wolff nach Paris und später nach London. Erst Ende der 70er-Jahre betrat sie besuchsweise wieder deutschen Boden.

Der Satz aus ihrer Autobiografie ist so filigran wie das menschliche Dasein – und deswegen kostbar für ein Miteinander, das glücken, das florieren könnte. Florian Illies hat in seinem grandiosen Buch „Liebe in Zeiten des Hasses: Chronik eines Gefühls 1929–1939“ Charlotte Wolff ein wenig anders zitiert: „Die Enttäuschung bewirkt eine Verletzbarkeit…“ Da ist es die bereits geschehene Enttäuschung, die Blütenträume zerstört. Nicht schon die Gefahr. Aber die Erfahrung lehrt, dass die feine Seele eines Menschen allein durch die Ahnung des Schmerzes, der einem zugefügt wird, Schaden nehmen kann. Vertraue ich Kollegen meine Ängste an? Was, wenn sie über mich lachen und alles abtun, was mich peinigt? Gestehe ich der anderen meine Liebe? Werde ich erhört oder weist sie mich zurück, erzählt gar höhnisch davon? Wer nicht wagt, der nicht gewinnt, sagt man leichthin. Da ist was dran. Aber ganz so simpel ist es eben nicht. „Du bist vielleicht eine Pflanze“, pflegte meine Mutter gelegentlich kopfschüttelnd, aber durchaus fürsorglich zu sagen. Eine Pflanze, die sich mit ihren Blüten vergnügt öffnen, aber eben auch komplett verschließen kann. Eine zarte Seele ist verletzbar, wenn sie herannahende grobe Gefahr erahnt. Nacht senkt sich hernieder auf das, was begonnen hat, im Leben zu wachsen und zu gedeihen. Es kommt nicht mehr zur Entfaltung. Und die tatsächliche Enttäuschung? Ein Mann, eine Frau, die ihresgleichen lieben und dafür immer noch verfolgt werden. Menschen, die fest an gemeinsame Werte in einer Gesellschaft glauben und miterleben müssen, wie sie zerbrechen. Kinder, die unbekümmert und vertrauensvoll ins Leben stürmen und auf gemeinste Weise zum „Opfer“ werden.

Da schließen sich Blüten für immer, fallen Knospen ab, ohne die Chance, je in voller Schönheit gesehen zu werden. Schon die Gefahr der Enttäuschung: Die Einsicht Charlotte Wolffs in die Verletzbarkeit des Menschen ist Hinweis. Ein Hinweis, sehr behutsam miteinander umzugehen in der Familie, im Freundeskreis, in Staat und Gesellschaft. Vor allem auch in der Kirche. Damit es nicht finster wird im Innersten, sondern Köpfe, Herzen und Seelen so licht bleiben, wie sie gedacht sind.

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