München – Am 12. August wurde Manfred Genditzki, 62, in der Justizvollzugsanstalt Landsberg bei seiner Arbeit in der Wäscherei gestört. Telefon. Die Dame von der Gefängnisverwaltung am anderen Ende sagte: „Sie können gehen. Jetzt.“ Damit endeten für den ehemaligen Hausmeister aus Rottach-Egern fast 13 Jahre Gefängnis.
Das Landgericht München II hatte ihn zu lebenslanger Haft verurteilt, weil er 2008 eine Seniorin ermordet haben soll. An dem Urteil gab es stets Zweifel. Genditzkis Anwältin Regina Rick stellte mit neuen Gutachten (siehe Kasten) erfolgreich einen Antrag auf ein Wiederaufnahmeverfahren, deshalb ist Genditzki jetzt auf freiem Fuß. Der Vater von drei Kindern bekommt einen neuen Prozess. Wie der abläuft, erklärt Laurent Lafleur, der Richter am Oberlandesgericht München ist und auch Sprecher des Landgerichts München I –dort wird Genditzkis Wiederaufnahmeverfahren laufen.
Herr Lafleur, was ist der Sinn eines Wieder- aufnahmeverfahrens?
Wenn ein Gerichtsverfahren entschieden ist, wenn alle Rechtsmittel ausgeschöpft sind, dann ist ein Urteil endgültig. Diese Rechtskraft ist ein hohes Gut, denn sie führt zu Rechtsfrieden – es ist wichtig, dass es den gibt. Ein Beispiel: Wenn ein Vermieter Sie aus der Wohnung klagt, aber nicht Recht bekommt, kann er nicht alle zwei Wochen wieder mit derselben Begründung ankommen und neu klagen. Er kann Rechtsmittel einlegen, aber irgendwann ist Schluss. Aber es gibt eine sehr enge Ausnahme vom Grundsatz des Rechtsfriedens. Das Wiederaufnahmeverfahren.
Wann kommt es dazu?
Insbesondere dann, wenn sich im Nachhinein herausstellt, dass es neue Beweise gibt, die das Gericht bei der Verurteilung nicht berücksichtigt hat oder noch gar nicht berücksichtigen konnte – diese Informationen aber dazu führen können, dass der Angeklagte eine geringere Strafe bekommt oder sogar freigesprochen werden muss. Dann steht das Recht des Einzelnen über dem Gut des Rechtsfriedens.
Sind das Fälle, die als Justizskandale bekannt werden?
Nein. Das hat nichts mit Justizskandal zu tun, sondern ist ein Beleg dafür, dass es für Ausnahmefälle einen Korrekturmodus gibt. Allein die Wiederaufnahme heißt ja auch nicht, dass der Angeklagte freigesprochen wird.
Wie selten ist ein Wiederaufnahme- verfahren wie das im Fall Manfred Genditzki?
Überraschenderweise gibt es dazu keine bundesweiten Statistiken, es werden zwar die Anträge gezählt, aber nicht die erfolgreichen. Die Ergebnisse werden leider nicht erfasst. Ich bin seit 16 Jahren bei der Justiz, das ist in der Zeit das allererste Wiederaufnahmeverfahren am Schwurgericht des Landgerichts München I. Erfahrenere Kollegen können sich nur an ein weiteres Verfahren erinnern, bei dem es um ein Tötungsdelikt ging.
Wie ging das aus?
Es endete mit demselben Ergebnis – der Angeklagte wurde wieder verurteilt.
Und wie viele Anträge auf Wiederaufnahme gibt es im Schnitt in Bayern?
Von 2012 bis 2016 zum Beispiel gab es jedes Jahr etwa 300 Anträge auf Wiederaufnahme – bei insgesamt abgeschlossenen 550 000 Verfahren. Ein sehr kleiner Teil der Anträge war auch zu Ungunsten des Angeklagten.
Wenn der Antrag wie bei Genditzki erfolgreich war: Ist der Verurteilte dann erst mal unschuldig?
Der von Ihnen sogenannte „Verurteilte“ ist gerade nicht mehr verurteilt. Die Rechtskraft des Urteils wird durch die Anordnung der Wiederaufnahme des Verfahrens durchbrochen. Er bleibt aber angeklagt. Die richtige Bezeichnung ist „der Angeklagte“. Für ihn gilt wie für jeden Angeklagten die Unschuldsvermutung.
Gilt im Wiederaufnahmeverfahren die alte Anklage?
Die ursprüngliche Anklage existiert weiterhin.
Auch wenn Beweise vorliegen, die der Anklage komplett widersprechen?
Genau das muss ja mit der erneuten Hauptverhandlung geklärt werden. Es gäbe auch die Möglichkeit, dass ein Gericht einen Angeklagten nach einem erfolgreichen Antrag auf Wiederaufnahme sofort freispricht. Zum Beispiel, wenn es um Mord geht, aber das vermeintliche Opfer plötzlich lebendig auftaucht. Dann ist klar, die Tat kann der Angeklagte nicht begangen haben. Stimmt auch die Staatsanwaltschaft zu, kann das Gericht dann sofort freisprechen. Aber das ist im sogenannten „Badewannen“-Verfahren nicht erfolgt. Hier kommt es zu einem neuen Prozess.
Muss die Polizei vor dem Prozess neu ermitteln?
Das Gericht kann Nachermittlungen in Auftrag geben. Im Normalfall ist es aber nicht so, dass ein ganz neues Ermittlungsverfahren startet.
Müssen die Zeugen von damals wieder aussagen?
Das Beweisprogramm wird vom Gericht bestimmt. Verteidigung und Staatsanwaltschaft können das durch Anträge natürlich mitgestalten. Aber in der Regel wird das ganze Beweisprogramm noch mal durchgeführt – also werden üblicherweise auch Zeugen aus dem früheren Prozess auftreten. Von besonderer Bedeutung werden aber natürlich die neuen Beweismittel sein, die für das Gericht ausschlaggebend waren, die Wiederaufnahme des Verfahrens anzuordnen.
Warum ist für den neuen Prozess das Landgericht München I zuständig?
Welches Gericht für eine Wiederaufnahme zuständig ist, steht schon fest, bevor ein Fall reinkommt. Es gilt die Regel, dass ein komplett neues Gericht über die ursprüngliche Sache entscheidet. Auch das Personal hatte noch nichts mit dem Fall zu tun.
Gibt es bereits einen Termin für das Wieder-aufnahmeverfahren?
Die Termine werden gerade abgesprochen zwischen den Beteiligten – je nach Verfügbarkeit geht es ab Frühjahr 2023 los. Das wird ein umfangreicher Prozess, der bedarf einer gewissen Vorbereitung.
Interview: Carina Zimniok