Vom Alphatier zum Aussteiger

von Redaktion

Zur Modelleisenbahn im Keller des Ferienhauses zog sich Seehofer oft zurück. Selten durften Gäste zuschauen. © ARD/Beckmann/2016

Bei der Migration behielt er Recht: Seehofer 2004 mit Angela Merkel. © Andreas Altwein/dpa

„Als tiefenentspannter Pensionist“: Horst Seehofer sitzt auf einer Bank in seinem Garten in Ingolstadt. © Marcus Schlaf

München/Ingolstadt – Ein politisches Leben, so orakelte Horst Seehofer einst, gebe es nicht „ohne Verwundungen und Narben“. Das klingt düster, doch wer ihm nun gegenübertritt, trifft keinen siechen Veteranen, humpelnden Waidwunden. Seehofer empfängt Gäste in seinem Garten in Ingolstadt-Gerolfing mit verschmitztem Lächeln und festem Händedruck, aufrecht und zehn Kilo schlanker als früher. Es geht ihm erkennbar gut im Ruhestand. Der Rasen ist gemäht, von ihm. „Rentner ist ein schöner Job“, sagt er gern. Wunden und Narben gibt es, aber er hat das alles recht gut weggesteckt.

In der Tat: Wenn Seehofer, einst Landesvater, übermorgen 75 wird, kann er für sich in Anspruch nehmen: Den Abgang vom Alphatier zum Aussteiger hat er souverän geschafft. Man hatte es ihm nicht zugetraut. Der „Spiegel“, der Seehofer stets mit inniger Hassliebe begleitete, taufte ihn 2018 „Die graue Renitenz“. Das ließ Schlimmes für den Ruhestand vermuten, noch ein Nörgler und Nachmauler. Stattdessen schaltete er sich Ende 2021 einfach für eine Weile stumm. Er gab nur wenige Interviews, wog seine Worte genau ab. Ein paar feine Spitzen gegen den Nachfolger Markus Söder – ja, das ist eine der Narben –, ein bisschen Stichelei über Angela Merkel. Er leistet sich den Luxus, gerade in der Migrationspolitik Recht behalten zu haben. Aber wendet das nicht um in Frontalangriffe. „Wer aufhört, muss loslassen“, sagte er unserer Zeitung letztes Jahr. „Ich hatte meine Zeit. Sie war unheimlich schön.“

Nun, so schön war sie nicht immer. Eigentlich war die Karriere des Horst Lorenz Seehofer eine wilde Achterbahnfahrt. Er, Sohn eines Lastwagenfahrers, startete mit Mittlerer Reife als Verwaltungsinspektor. Mit ein bisschen Glück wurde er in den Bundestag gewählt, Bonn damals. Später schaffte er es unter Kohl zum Bundesgesundheitsminister, 1992 bis 1998, und unter Merkel zum Agrar- und dann Bundesinnenminister. Dazwischen übernahm er 2008 für ein Jahrzehnt eine darniederliegende CSU als Regierungs- und Parteichef, führte sie zurück zur absoluten Mehrheit.

Aber eben auch: Stürze. Legendär sind Seehofers Rücktritt als Unionsfraktionsvize 2004, ein Eklat über die Gesundheitspolitik. Hässlich wurde es 2007, als eine außereheliche Affäre öffentlich wurde, bis heute nicht ganz klar, auf welchem Weg. Ebenso bitter natürlich der Abschied aus Bayern, als er 2018 den beinharten Machtkampf gegen Söder verlor. Er hat all das politisch überlebt. Wobei „Überleben“ bei Seehofer einen bitterernsten Beiklang hat.

Im Januar 2002 hätte ihn die Politik wirklich fast das Leben gekostet. Er erkrankt schwer, Herzmuskelentzündung, schuftet weiter, lässt sich viel zu spät behandeln. In letzter Minute wird er ins Krankenhaus gebracht, seine Herzleistung auf sieben Prozent gesackt, zu schwach zum Stehen, im Liegen von Hustenreiz zerrissen. Drei Wochen ringt er auf der Intensivstation mit dem Tod. „Plötzlich war ich ein ohnmächtiger Patient“, erzählt er später. „Da war mir das erste Mal in meinem Leben so richtig bewusst, dass ich doch nur ein ganz kleiner Wurm bin.“

Ihn hat das geprägt, auf dem Boden gehalten. Er hat sich nicht immer, wie die Ärzte empfahlen, geschont seither. Aber ab und zu einen Gang zurückgeschaltet, auch als Ministerpräsident, etwa in der Terminplanung. Nicht alles so extrem getaktet, lieber mal mehr Zeit für Gesprächspartner. Journalisten wussten, dass er sich immer einige Minuten nimmt, um seine oft komplexen Strategien zu erklären. Manchmal verdutzte Seehofer damit auch seine Gegner. In Ingolstadt setzte er sich mal lang abends mit einer grünhaarigen Punkerin an einen Biertisch, die zuvor versucht hatte, seinen Auftritt zu stören. Sie argumentierten. Zum Abschied: Händedruck.

Söder findet sehr freundliche Worte zum Geburtstag. „Er hat Krisen gemanagt in schwierigen Zeiten, aktiv Zukunft gestaltet, den Menschen als Landesvater Zuversicht gegeben“, sagt er. „Ein Vollblutpolitiker.“

Und jetzt? Festakte? Lobreden? Geburtstagsempfänge? Seehofer hat dankend abgewunken, sagen sie in der CSU. Er feiert mit seiner Frau. „Als tiefenentspannter Pensionist“, so erzählt seine Tochter Susanne, „will er nicht groß feiern. Aber dem spontanen Besuch seiner Kinder und Enkel entgeht er natürlich nicht. Da muss er durch.“

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