Vorderriß von oben. Mit breitem Schuttstrom vereinigt sich der oberhalb zum Walchensee-Kraftwerk abgeleitete Rißbach mit der viel unscheinbarer daherkommenden Isar.
Arbeitet in einem einzigartigen Ort: Revierförster Ludwig Kastl. © Bannier (2)
Vorderriß – Es ist einer der ungewöhnlichsten Orte in Bayern: Abgeschieden liegt er in der Region am Karwendelgebirge an der Grenze zu Tirol, direkt am Zusammenfluss von Isar und Rißbach. So karg und schroff erscheint die Landschaft dort, dass sich manche Besucher eher in Kanada wähnen als im Freistaat.
Vorderriß im Landkreis Bad Tölz-Wolfratshausen besteht aus neun Häusern und knapp 30 Einwohnern. Verwaltungstechnisch gehört der Weiler zu Lenggries. Aber die Gemeinde ist von Vorderriß 24 Kilometer entfernt. Es gibt in Vorderriß keinen Supermarkt, keinen Bäcker und das Handy funktioniert auch nur eingeschränkt. Aber es gibt eine Freiwillige Feuerwehr. „13 Aktive schützen 26 Einwohner“, meldeten vor zwei Jahren die „Lenggrieser Nachrichten“.
„Es ist ganz besonderer Ort“, sagt Revierförster Ludwig Kast. Der 34-Jährige hat die Stelle im Vorderriß vor sieben Jahren angetreten. „Dass ich diese Stelle bekommen habe, war eine große Ehre für mich“, sagt Kast. „Ein echter Sechser im Lotto.“ Sein Büro hat der Revierförster im einstigen Königlichen Jagdhaus, dem schönsten und größten Gebäude der Siedlung, zu der auch noch die Försterei des Großherzogs von Luxemburg, eine Gastwirtschaft und ein ehemaliges Zollamt gehören.
Sie alle zeugen von der großen Geschichte dieser kleinen Ansiedlung im Nirgendwo, die den Weiler weit über die Grenzen Bayerns hinaus bekannt gemacht hat. Einige Bedeutung erlangte Vorderriß bereits im Jahr 1431, als der von den Römern angelegte Handelsweg von Venedig über Mittenwald nach Augsburg ab Mittenwald durch eine alternative Floßroute auf der Isar zum aufstrebenden München ergänzt wurde. Einige Jahrhunderte später folgten die Wittelsbacher, die das Karwendel zu ihrem bevorzugten Jagdgebiet erkoren und sich hier ein Netz aus Unterkünften und Reitsteigen schufen. Das königliche Jagdhaus in Vorderriß ließ König Maximilian II. von Bayern im Jahr 1841 errichten. Unter seinem Sohn König Ludwig II. wurde das Jagdhaus zum Königshaus umgebaut.
Zwei Mal im Jahr, im Mai sowie Ende Oktober, weilte der Kini in Vorderriß. Ludwig II. liebte die Natur, verabscheute aber die Jagd. Und es wird berichtet, dass er hier seine Menschenscheu ablegte und alle Förster, Holzfäller und Flößer mit Namen kannte. Die königlichen Gepflogenheiten sind deshalb so gut dokumentiert, weil neben dem Königshaus, im heutigen Ludwig-Thoma-Haus, der Schriftsteller seine ersten Lebensjahre verbrachte. Sein Vater Max war Oberförster in Vorderriß und hat den König bei dessen ausgedehnten Exkursionen oft begleitet.
Lange war Vorderriß auch ein wichtiger Flößerstützpunkt, sogar eine Flößerzunft wird erwähnt. Mit dem Bau des Sylvensteinspeichers fand aber die Isarflößerei ein Ende. In den 1960er Jahren lebten dennoch weitaus mehr Menschen in Vorderriß als heute. Toni Erhard, der in Vorderriß in einer kinderreichen Familie aufgewachsen ist, erinnert sich an seinen ersten Schultag 1959. „15 Kinder aller Jahrgangsstufen besuchten die einzige Klasse unserer Schule.“ Auch an den Namen der Lehrerin kann er sich noch erinnern: „Das war das Fräulein Kranz.“
Doch als die Grenzpolizei und der Zoll 1964 in den Ort Neu-Fall verlegt wurden und die Familien wegzogen, verlor die Schule ihre meisten Schüler. „Da waren wir dann nur noch vier, deshalb wurde unsere Schule geschlossen und auch wir fuhren nach Fall in die Schule“, erinnert sich Erhard.
Geschlossen wurde Jahrzehnte später auch die Grenzstation. Das ehemalige Zollhaus wurde 2004 verkauft, es dient jetzt als Unterkunft für Besucher, die sich selbst versorgen. Ansonsten aber ist in Vorderriß alles beim Alten geblieben.
Und das, sagt Revierförster Ludwig Kast, sei doch genau das, was diesen Ort so einzigartig mache.
RAINER BANNIER