München – 1955. Die Bundesrepublik Deutschland wird am 5. Mai souverän. Winston Churchill legt in London das Amt des Premierministers ab, das atomare Wettrüsten in West und Ost beginnt. Große Ereignisse, die das Land zehn Jahre nach Kriegsende bestimmen. Langsam nimmt auch das deutsche Wirtschaftswunder Fahrt auf: Die Menschen haben wieder Geld und genug zu essen. Mangelernährung gehört der Vergangenheit an.
In München erscheint das Kochbuch „Ich helf Dir kochen“. Die Autorin Hedwig Maria Stuber, inzwischen stolze 94 Jahre alt, sitzt sieben Jahrzehnte später in ihrer Küche im Münchner Norden und blättert im Original. „Die Rezepte spiegeln den Hunger der Nachkriegszeit wider“, sagt Hedwig Maria Stuber. „Fettes, schweres, deftiges Essen war damals gefragt. All das, vorauf man lange hatte verzichten müssen.“ Innereien sind in dieser Zeit noch heiß begehrt: Zu den Klassikern gehören „Gebackenes Hirn“, „Saure Lunge“ und „Geräucherte Ochsenzunge“.
Auf 344 Seiten und mit rund 1000 Rezepten erklärt „die Stuber“, wie sie auch oft genannt wird, in der ersten Auflage der „lieben Hausfrau in Stadt und Land“ das Kochen. Das Werk versteht sich von Anfang an als Grundlagenkochbuch. Für alle, die zum ersten Mal am Herd stehen. Gerade ist im BLV-Verlag ein Reprint erschienen
1955 ist ein Kochbuch noch etwas absolut Besonderes – „mein erstes Kochbuch, das ich in Händen hielt, war mein eigenes“, erinnert sich die 94-Jährige an die Anfänge. Damals sei es üblich gewesen, dass die jungen Mädchen in der Schule kochen lernten und die Rezepte selbst in ein Heft schrieben. Hedwig Maria Stuber sagt: „Kochen war damals nicht populär wie heute, sondern einfach notwendig.“
„Wir wurden vom Erfolg überrascht“, erzählt die Münchnerin über das Anfangsjahr 1955. Die erste Auflage mit 10 000 Stück war innerhalb eines Jahres verkauft.
„Ich helf Dir kochen“ ist von Anfang an weit mehr als ein bloßes Kochbuch. Es ist ein Stück kulinarisches Zeitdokument. Die Entwicklung der Auflagen ist wie eine Dokumentation der sozialen Entwicklung der Republik: Anfangs gab es noch keine Kühlschränke, das Haltbarmachen und Einlegen der Lebensmittel nehmen im Buch einen großen Raum ein.
Später überrollt eine Fresswelle nach der anderen das Land, die Stuber ist mit jeder Welle mitgeschwommen, „wir haben nichts ausgelassen“: In den 1960er-Jahren kamen die Fleischspießchen in Mode – „als logische Folge, dass viele Menschen im Sommer nach Jugoslawien in den Urlaub fuhren“. Das kalte Buffet war in dieser Zeit auch der Hit bei Einladungen: Käseigel und Fliegenpilz-Tomaten durften nicht fehlen.
In den 1970ern wurden Fondue und das Flambieren zum Trend. „Erstmals machten wir zu den Rezepten auch Kalorienangaben.“ Die fetten Anfangsjahre waren vorbei, „das Idealbild der Frau sollte möglichst schlank sein“, erinnert sich die Autorin an den damaligen Zeitgeist. Doch Kalorienangaben waren auf Dauer zu mühsam: „Bei jeder Änderung des Rezepts hätten wir die Kalorien neu berechnen müssen.“ Heute sucht man sie in der „Stuber“ vergebens.
Dominierte in der Mitte des vergangenen Jahrhunderts Fleisch die Gerichte, entdeckten die Deutschen in den 1980ern das Gemüse für sich. Hedwig Maria Stuber sagt: „Aus Italien hatten viele Auberginen, Zucchini und Brokkoli mitgebracht. Diese Gemüsesorten kannte man bis dato bei uns nicht.“ Als Fernreisen populär wurden, fanden Wok-Gerichte Einzug in die Stuber.
Zuletzt schwappte die grüne Welle übers Land, sagt Tochter Angela Ingianni, die mittlerweile als Co-Autorin mitwirkt. Die Gesellschaft übt sich bei der Ernährung jetzt im Verzicht, isst bewusster als vor 70 Jahren. „Damals ging es den Leuten nur darum, satt zu werden.“ Sogar vegane Rezepte finden sich in dem Grundlagenkochbuch – weil manche Speisen auch hierzulande immer schon ohne tierische Produkte auskamen.
Am Anfang ist das Werk zugleich ein Verhaltensbuch für die Hausfrau. Eine Art Knigge. Selbst mit dem Aussehen der Hausfrau zu Tisch befasst sich die erste Auflage. „Das wäre heute undenkbar“, sagt die Kochbuch-Chronistin. Über Sätze wie „Kein Mann schätzt es, wenn er zur Mittagszeit nach Hause kommt, seine Frau mit fettig glänzendem Gesicht zu sehen. Vor dem Essen ist auf jeden Fall die Arbeitsschürze abzunehmen und ein Blick in den Spiegel zu tun, um die Haare zu ordnen“, schüttelt die 94-Jährige heute etwas belustigt den Kopf.
„Damals war halt eine andere Zeit“. Die Rollen waren noch klar aufgeteilt: Der Mann ging zur Arbeit, die Frau blieb daheim und kümmerte sich um den Haushalt. Die Küche war noch mehr Wirtschafts-, denn Lebensraum, meist klein und nach Norden hin ausgerichtet. Aufwändige Wohnküchen kamen erst später in Mode. „Uns war das Praktische in der Küche wichtig. Eine Röhrenlampe sollte für gutes Licht sorgen.“
Ratschläge zur Lebensführung verschwinden nach und nach aus den Büchern. Das Kochbuch geht mit der Zeit. Das sieht man auch schön an den Covern. Kein Rezept ist so geblieben – heute wird mit deutlich weniger Fett als damals gekocht. Hedwig Maria Stuber sagt: „Das Essen in Deutschland ist im 21. Jahrhundert schlanker, bissfester und internationaler.“ Auch haben sich die Formulierungen geändert. Belehrende Sätze wie „Was ich mir merken muss“ am Ende eines jeden Kapitels mag heute keiner mehr lesen.
Bis heute bestimmt das Kochen das Leben der Stuber-Autorinnen. „Wir sind immer auf der Suche nach Neuem. Egal, ob wir bei Freunden zum Essen eingeladen sind, ins Restaurant gehen oder auf Reisen sind.“ Wenn’s schmeckt, kommt das Rezept in den Ordner. Für die nächste Auflage. Zeit- und Kulturgeschichte wird weiter am Herd geschrieben. Dann sind bald mehr als vier Millionen „Ich helf dir kochen“- Bücher verkauft.