München – Valentin Scheck kurbelt mit dem Mountainbike gerne die Berge hinauf, stürzt sich im Winter Tiefschneepisten hinunter, erklimmt die höchsten Gipfel. Er ist jung, er ist fit, er genießt sein Leben. Der 23-Jährige saugt Eindrücke ein, lebt jeden Tag, als wäre er der letzte. Denn er weiß, was es bedeutet, dem letzten Tag schon beängstigend nahe gewesen zu sein. Vor sieben Jahren bekam Valentin Scheck das Herz eines Fremden eingepflanzt. „Ohne die Organspende wäre ich längst tot“, sagt der angehende Mechatroniker.
Der junge Mann aus Forstinning im Landkreis Ebersberg hatte Glück. Ein fremdes Herz konnte ihm das Leben retten. Es hätte auch anders ausgehen können. Seit Jahren fehlen Spenderorgane. Über 10 000 Menschen warteten 2017 auf eines, in Bayern waren es 1400 Patienten, darunter auch Kinder. 900 Patienten starben, weil das Warten zu lange dauerte. Die Zahl der Organspender ist so niedrig wie seit 20 Jahren nicht mehr. Bundesweit gab es nach Angaben der Deutschen Stiftung Organtransplantation (DSO) im vergangenen Jahr nur 797 Organspender, bei 81 Millionen Einwohnern. Durch grenzüberschreitenden Organaustausch konnten 2764 Spenderorgane verpflanzt werden (2016 noch 3049).
Dreieinhalb quälende Monate musste Valentin Scheck auf ein neues Herz warten. Die Situation ist damals dramatisch. Er ist 15 Jahre alt, als er beim Sportunterricht plötzlich nicht mehr mithalten kann. Es geht ihm richtig schlecht. Mit seiner Mutter fährt er zum Arzt. Die Angst ist groß. Ist es wieder Krebs? Valentin hatte als Kind einen bösartigen Tumor an der Niere. Chemotherapie und Medikamente schwächten sein Herz. Die Ärzte geben Entwarnung, haben aber eine andere Hiobsbotschaft. Sein Herz pumpt nicht mehr richtig, früher oder später wird es aufhören zu schlagen.
Valentin Scheck kommt auf die sogenannte „Hochdringlichkeitsliste“, wie alle Kinder unter 16 Jahren. „Ich wurde immer schwächer, am Ende habe ich es kaum noch bis zur Toilette geschafft“, erinnert er sich. Am 17. Juli 2011 kommt der erlösende Anruf. Ein passendes Herz für ihn ist gefunden. Die Verpflanzung verläuft gut, Valentin findet Schritt für Schritt zurück ins Leben. „Heute bin ich genauso belastbar wie jeder andere“, sagt er. Aus Dankbarkeit spendete er seine Herzklappen. „Ich wollte etwas zurückgeben“, sagt er.
Natürlich denkt er manchmal darüber nach, wessen Herz in ihm schlägt. „Ich würde der Familie gerne danken“, sagt er. Künftig soll das möglich sein. In seinem „Entwurf eines Gesetzes für bessere Zusammenarbeit und bessere Strukturen bei der Organspende“ fordert Gesundheitsminister Jens Spahn, dass den Angehörigen ein anonymisierter Dankesbrief weitergeleitet werden kann. Nur ein kleiner Aspekt in dem Gesetzentwurf.
Primär geht es darum, wie Organisationsstrukturen in Krankenhäusern und die Vergütung von Organentnahme und Transplantation verbessert werden können. Rund 35 Millionen Euro pro Jahr sollen künftig bereitstehen, um die Transplantationszahlen zu steigern. Außerdem will der Gesundheitsminister die Widerspruchslösung einführen, wonach jeder Organspender ist, der nicht zu Lebzeiten widerspricht. Und damit hat er eine Welle des Protests ausgelöst.
Der Mensch als Ersatzteillager. „Der Körper als Objekt staatlicher Sozialpflichtigkeit“, wie Peter Dabrock, Vorsitzender des Deutschen Ethikrates, es bezeichnete. Von der katholischen Kirche bis zum Ethikrat wird die Beibehaltung des Freiwilligkeitsprinzips gefordert. Valentin Scheck versteht die Aufregung nicht. „Wer absolut nicht möchte, dass ihm nach dem Tod die Organe entnommen werden, kann doch weiterhin Widerspruch einlegen“, sagt er.
Fraglich ist, ob die Widerspruchslösung überhaupt zu mehr Organspenden führen würde. Eine repräsentative Umfrage hat gezeigt, dass schon heute 55 Prozent der Bevölkerung bestimmt oder wahrscheinlich bereit wären, ihre Organe zu spenden (siehe Grafik). Oft hakt es an der Organisation. Den Krankenhäusern fehle oftmals Zeit und Geld, um Organspender zu identifizieren, hieß es kürzlich aus dem Gesundheitsministerium. Die DSO glaubt, dass die zunehmende Arbeitsbelastung auf den Intensivstationen eine zusätzliche Hürde für Organspenden sei.
Eine Studie anhand von mehr als 100 Millionen Behandlungsfällen der Jahre 2010 bis 2015 von Patienten mit schwerer Hirnschädigung habe gezeigt, dass mögliche Organspender immer seltener erkannt und gemeldet werden. Bayern ist hier schon einen Schritt weiter. Seit Anfang 2017 sind Ärzte, die die Aufgabe des Transplantationsbeauftragten übernehmen, dafür freigestellt. Sie müssen das Thema Organspende nicht neben ihrer normalen Arbeit bewältigen. Und damit ist es das einzige Bundesland, das 2017 eine deutliche Steigerung der Organspende erzielen konnte (2016: 382 gespendete Organe, 2017: 486). Die Transplantationsbeauftragten in den rund 1250 Entnahmekliniken sind die Schnittstelle zur DSO. Künftig sollen sie mehr Zeit haben, mit Angehörigen zu sprechen, Ängste abzubauen.
Diese Ängste verfolgt Hermann Anwander im Internet. Manchmal kann er sich nicht mehr zurückhalten. „Viele haben ein gefährliches Halbwissen“, sagt er. Ärzte verdienten sich eine goldene Nase, Organspende sei unchristlich, bei Spendern würden die Maschinen früher abgestellt: „Da wird’s oft hoch emotional.“ Kürzlich schrieb er einen Kommentar: „Ihr würdet also euer Kind sterben lassen, weil ihr gegen Organspende seid?“ Er bekam keine Antwort.
Der 67-Jährige weiß, was es heißt, mehr tot als lebendig zu sein. Vor sechs Jahren ging es ihm so schlecht, dass er mit dem Leben schon abgeschlossen hatte. 20 Jahre litt er an einem erblich bedingten Nierenleiden. 25 Mal Nierensteinzertrümmerung, 54 stationäre Krankenhausaufenthalte. Mit 60 dann an die Dialyse. Eineinhalb Jahre, in denen er nur zwischen Blutwäsche und Bett hin und her pendelte. „Ich war zu schwach zum Sitzen“, sagt er. Die Ärzte gaben ihm noch ein paar Monate. Laut Warteliste hätte der pensionierte Polizeioberkommissar aus Garching an der Ilz (Kreis Altötting) acht bis zehn Jahre auf eine Spenderniere warten müssen. „Das hätte ich nimmer erlebt.“
Den schönsten Augenblick seines Lebens beschreibt er ganz lapidar. Eines Tages rief sein Bruder Josef (70) an. Ich geb’ dir eine Niere, habe er gesagt. „In einem Ton, wie wenn er mich auf eine Leberkassemmel einladen will“, sagt Anwander. Die Größe dieses Moments kann er bis heute nicht in Worte fassen. Unendliche Dankbarkeit, die zum Glück völlig unbelastet ist, fühle er. „Meinem Bruder geht es ja auch bestens.“ Ihm verdankt er, dass er seinen vier Enkeln im Alter von vier bis neun Jahren beim Großwerden zusehen darf. Am Wochenende war er mit ihnen in den Bergen. „Mir geht es so gut wie fast noch nie“, sagt Anwander. Er hat selbstverständlich einen Organspendeausweis. Gerne würde er einem Todkranken ein neues Leben schenken, wenn seines zu Ende geht.
Josef Rossack aus Marktl am Inn wartet seit vier Jahren auf eine neue Niere. Sein zweites Spenderorgan. 1995 ist er schon einmal dem Tod knapp von der Schippe gesprungen. Mit der ersten transplantierten Niere lebte er 19 Jahre lang unbeschwert. Seit 2014 hängt er wieder an der Dialyse. Dieses Jahr war er mehr im Krankenhaus als daheim. Zwölf Operationen unter Vollnarkose folgten auf die Diagnose Platzbauch. Eine Herzschwäche wurde im April auch noch diagnostiziert: Rossack bekam vier Bypässe. 52 Kilo wog er nur noch. Nach einer Reha ist er wieder auf 67 Kilogramm. „Ich bin ein Stehaufmanderl“, sagt der 66-Jährige. Er würde so gerne noch einmal auf einen Berg gehen. Wenn er rechtzeitig eine Spenderniere bekommt, könnte der Traum wahr werden. Ihm würde ein zweites Mal ein zweites Leben geschenkt.