Helsinki – Um 10.06 Uhr ist das Rennen gelaufen. Die Wahlurnen sind eben erst geöffnet worden, aber als Manfred Weber unter lautem Applaus die Bühne im Messukeskus-Centre in Helsinki verlässt, ist klar, wer die europäischen Konservativen in die nächste Europawahl führen wird.
Weber war dank jahrelanger, mühevoller Kleinarbeit schon früh als Favorit ins Rennen gegangen. Doch dass er das Rededuell gegen den ebenso eloquenten wie polyglotten Finnen Alexander Stubb klar gewinnen würde, hatten selbst die größten Optimisten unter den deutschen Delegierten nicht gedacht. Weber zerstreut eine große Sorge, die selbst Anhänger nicht verhehlt hatten: ob er dieses Europa, das viele Bürger ja nur als bürokratisches Monster wahrnehmen, in einem Wahlkampf glühend verkaufen könne. Er kann.
Kurz vor Beginn des Parteitags schien man sogar ein wenig nervös zu werden. Alexander Stubb, der finnische Ex-Ministerpräsident, hatte einen kurzen, aber hoch professionellen Wahlkampf aufgezogen. Auf Postern posierte der durchtrainierte Athlet eher wie ein Model als ein Politiker. Selbst am Flughafen von Helsinki wurden die EVP-Delegierten von seinem Konterfei begrüßt, im Foyer der Halle ließ er finnische Hot-dogs verteilen. Die CSU stellte deshalb Geld bereit, flog einige JU-Mitglieder ein, die mit Lebkuchenherzen gegenhielten. Darauf ein gezeichnetes Bild Webers, ein bisschen angelehnt an die berühmte Obama-Zeichnung, die zur Ikone wurde. Nur, dass unter Webers Bild nicht „Hope“, sondern der sehr deutsche Name „Manfred“ prangt.
Dieser Manfred betritt also um kurz vor 10 Uhr am Donnerstagmorgen die Bühne. Unten sitzen mehr als 2000 Gäste. Vermutlich hat der 46-Jährige jeden einzelnen von ihnen in den vergangenen 24 Stunden schon persönlich begrüßt. Bis tief in die Nacht hat er Gespräche geführt, auch mit den Staatschefs, die sich abends noch mit Angela Merkel trafen. Die Kanzlerin, die erst gegen 20 Uhr angereist war, hält sich auffallend im Hintergrund. Die Bühne gehört Weber.
Der wendet sich nun an die Delegierten. Insgeheim denken ja alle, dass der fünfsprachige Stubb rhetorisch besser ist als der Niederbayer, dessen Englisch auch bei dieser so sorgfältig vorbereiteten Rede holpert. Doch Weber hat etwas Besseres dabei als geschliffene Grammatik: Herz und Leidenschaft. „Ich stehe hier, um für ein Mandat zu bitten, Europa zu verändern“, beginnt er. Dann spricht er – wie schon im Wahlwerbe-Video – über seine Heimatgemeinde Wildenberg. Seine Grundschule. Die kleine Bäckerei. Tausende solcher Gemeinden gebe es in Europa. Und für die müsse man in Brüssel arbeiten. „Viele Leute sehen Europa nur noch als Projekt für die gut ausgebildeten Menschen, die viele Sprachen sprechen. Die Eliten“, ruft Weber. Die Aufgabe sei aber eine andere. Er wolle an einem Europa arbeiten, in dem sich die Bürger wieder zuhause fühlen.
Weber hält eine CSU-Rede. In Bayern kennt man die Bausteine. Sicherheit. Schutz der Außengrenzen. Fortschritt. Die Kirche im Dorf, die Identität und Werte prägt. Wer so etwas sage, werde als konservativ und von gestern verspottet. „Das ist mir egal“, ruft Weber unter großem Beifall. „Es ist mir wichtig, dass wir unser Erbe würdigen.“
An einigen Stellen wird es richtig persönlich. Weber erzählt, wie sein Büro nach den Anschlägen in der U-Bahn vor dem EU-Parlament in Brüssel verzweifelt nach einem Praktikanten suchte, zu dem man keinen Kontakt aufnehmen konnte. Mit einem besseren Austausch an Sicherheitsdaten hätte die Tragödie vielleicht verhindert werden können. Er berichtet – erstmals überhaupt – vom Krebstod seines Bruders und ruft dazu auf, Geld und Ressourcen endlich zu bündeln, um mit medizinischem Durchbruch die Welt zu einem besseren Ort zu machen.
Hinterher herrschte ehrliche Begeisterung. „Wunderbar“, schwärmt Angela Merkel. „Das war nicht die Blase von Brüssel, sondern das wahre Leben“, sagt CSU-Kollegin Daniela Ludwig. „Mit einer solchen Europapolitik erreicht man die Herzen der Menschen“, findet Markus Blume. Der CSU-Generalsekretär klingt fast etwas erleichtert. Mit dem mäßigen Ergebnis von 40,5 Prozent hatte bei der Europawahl 2014 die Negativserie der Christsozialen begonnen. Jetzt hat die CSU mit einem bayerischen Kandidaten deutlich bessere Ausgangsbedingungen.
Ein Heimvorteil, denn insgesamt warnt Angela Merkel eindringlich: „Es wird einer der schwierigsten Wahlkämpfe, die wir in der Geschichte der Europäischen Union geführt haben.“ Mit Sorge blicken die Konservativen auf die vielen Populisten. Eben erst hat eine Umfrage ergeben, dass 67 Prozent der Europäer die Welt früher besser fanden. Der italienische Oberpopulist Matteo Salvini kokettierte unlängst schon mit einer eigenen Kandidatur als Kommissionspräsident.
Als das Ergebnis, fast 80 Prozent für den Mann aus Niederbayern, bekannt ist, bahnt sich Weber sehr amerikanisch begleitet von lauter Musik den Weg durch die Menge. Für ihn beginnt nun die große Kampagne quer durch alle 27 Mitgliedsländer. In Brüssel mag dieser etwas unscheinbare Mann eine echte Nummer sein, die breite Bevölkerung muss ihn erst noch kennenlernen. „Lasst uns das Momentum von Helsinki mitnehmen“, ruft er, als er endlich alle geherzt hat. Selbst Horst Seehofer, der den JU-Vorsitzenden Weber einst als „Ichling“ beschimpft hatte, bekommt eine innige Umarmung.
Das letzte Wort aber – und das ist ungewöhnlich – gehört dem Verlierer. Dieser Manfred sei ein fantastischer Typ, sagt Stubb. „Ich kann 100-prozentig hinter ihm stehen.“ Dann spielt die Parteitagsregie „We are family“.
Die Populisten können kommen.